Karl-Kraus-Jahr Satire Die Fackel Moral
Der Satiriker Karl Kraus (1874–1936) führte einen völlig einsamen Kampf – wider den Ungeist nicht nur seiner Epoche.
Hilscher, Albert / ÖNB-Bildarch

Rohheiten des Ausdrucks wogen in seinen Augen so schwer wie Verletzungen der guten Sitten. Dass es mit Letzteren nicht weit her sein könne, las Karl Kraus dem Zeitungsdeutsch ab, das seine Zeitgenossen verwendeten.

Der größte Satiriker, den Österreich jemals hervorgebracht hat, war Einzelgänger. Als am 1. April 1899 die erste Ausgabe seiner Zeitschrift Die Fackel erschien, teilte er der Öffentlichkeit sein Begehr unverblümt mit. Er, der Sohn eines Papierfabrikanten aus Böhmen, sei nicht gekommen, Erbaulichkeiten mitzuteilen. "Dürftig" nannte er sein politisches Programm, das mit Blick auf die Fackel lautete: "Kein tönendes 'Was wir bringen', aber ein ehrliches 'Was wir umbringen' hat sie sich als Leitwort gewählt."

Die Fackel züngelte und brannte nicht weniger als 922 Ausgaben lang, bis Februar 1936. Ursprünglich losgezogen, um der Gesellschaft die Leviten zu lesen, versah Kraus sein Richteramt immer rigoroser. Die Stoßrichtung seiner Polemik: Ein paar wenige machten mit den Nöten vieler ihre guten Geschäfte. Prompt unterzog er die schönen Worte, die er in irgendwelchen Blättern abgedruckt fand, gründlicher satirischer Überprüfung.

Für gewöhnlich hielt das Deutsch der Patrioten und Schwätzer seinem Urteil nicht stand. Schlimmer noch, Kraus war imstande, aus dem geringfügigsten Anlass auf die Verderbtheit des Ganzen zu schließen. Mit Falotten, das heißt: korrupten Verlegern, Kriegstreibern, Revolverjournalisten, "das Vaterland und die Epoche gemeinsam zu haben" schien ihm schlimm genug, obgleich noch erträglich. "Aber ich schäme mich, mit ihnen denselben Weltraum und dieselbe Ewigkeit zu teilen."

Jemanden wie Karl Kraus (1874–1936) hat es vor wie nach ihm nie mehr gegeben. Vertreter des gebildeten Publikums in Wien trugen rote Fackel -Hefte wie Gesinnungsausweise auf der Straße spazieren. Die Organe der Öffentlichkeit – ihre Profiteure wünschten ihm bald die Pest an den Hals – wurden von Kraus sprachseziert. Anstatt zu sagen, was der Fall sei, würde die Presse die nackten Tatsachen mit plumpen Phrasen verhängen.

Schiere Raserei

Der Boulevardjournalismus ging buchstäblich über Leichen. Mit den Jahren sollte Kraus’ Widerwille zur schieren Raserei angestachelt werden. Der Satiriker geißelte die Katastrophe des Ersten Weltkriegs (1914–1918), die er – in der alten, damaligen Bedeutung – der Entartung des Menschengeschlechts zuschrieb.

Dieses zog mit klingendem Spiel, vor allem aber unter Ausposaunen der abgeschmacktesten Hetzreden zu Hunderttausenden in die Schützengräben – und ließ sich dort von Mörsergranaten zerreißen. Die kolportierte Propaganda, das abgeschmackte Treiben der Hetzer und Schieber montierte er in dem Drama Die letzten Tage der Menschheit zum Mosaik des Grauens. Wer heute Kraus nachliest, wird die Schrecken des modernen Krieges nie mehr auf die leichte Schulter nehmen – oder leichtfertig von bewaffneten Auseinandersetzungen schwärmen.

Kraus, ein kleiner, kurzsichtiger Mann mit Höchstbegabung für den mündlichen Vortrag, war Influencer, lange bevor es dergleichen gab. Übel, die er als allgemeine ansah, nahm er strikt persönlich. Seine Polemik ist darum niemals konstruktiv, sondern vernichtend. Weil man das Wort nicht gerne an diejenigen übergibt, die es weniger treffend zu führen verstehen, besorgte der rastlose Satiriker die ganze Arbeit lieber selbst. Erlösung? Gibt es für die Menschheit keine. "Die Welt geht unter", schrieb Kraus, "und man wird es nicht wissen."

Ursprung der Schöpfung

Warum sollte man Kraus heute noch lesen? Seine weithin schwingenden Satzperioden setzen modernen, flüchtigen Lesegewohnheiten spürbaren Widerstand entgegen. Umgekehrt schrieb Kraus das reine, unverfälschte Deutsch Goethes und Matthias Claudius’. Er war bei Bedarf Essayist, Aphoristiker, Lyriker. Die Sprache setzte er mit dem Ursprung der Schöpfung in eins – und ahndete ihre missbräuchliche Verwendung als Sünde wider Gott.

Im April gilt es, die 150. Wiederkehr von Karl Kraus’ Geburtstag zu feiern. Eine Artikelserie im STANDARD soll in den kommenden Wochen helfen, Aspekte seiner Sisyphosarbeit zu vergegenwärtigen. Von Kraus lernen heißt, Kritik nicht an Zeiterscheinungen zu üben, sondern an der Zeit. Floskeln, die man irgendwo gedankenlos liest, erfüllen sich – wie Kraus im Hinblick auf die Nazi-Barbarei feststellte – irgendwann mit Blut.

Kraus verwarf die sexualmoralische Heuchelei seiner Zeit (Sittlichkeit und Kriminalität). Er selbst sagte von sich, dass er seinen Lesern gezeigt habe, wie man eine Urne von einem Nachttopf unterscheide. Er selbst teilte die anderen ("die Positiven") ein in solche, die die Urne als Nachttopf, und solche, die den Nachttopf als Urne gebrauchen.

Karl Kraus hätte Social Media vielleicht nicht verdammt. Aber er hätte die vielfach enthemmende Wirkung ihrer Benutzung gebrandmarkt. Und den "Shitstorm" als die kategoriale Verwechslung des Unflats mit der Gabel, die ihn aufspießen soll. (Ronald Pohl, 2.3.2024)