Kaffeebauer
Ein Kaffeebauer begutachtet seine Ernte. Durch den Klimawandel wird der Anbau schwieriger und die Böden trockener.
AFP/EZEQUIEL BECERRA

Die Reaktionen der Wirtschaftsvertreter – sie atmeten förmlich Erleichterung: Das EU-weite Lieferkettengesetz ist zumindest auf der langen Bank geparkt. Gut möglich, dass es in der aktuellen Form niemals kommt.

Dabei geht es um nichts weniger als um einen verantwortungsvolleren Umgang mit Mensch und Natur. Und das nicht nur vor der Haustür. Lange schaute niemand so genau hin, wenn Unternehmen in fernen Ländern produzieren ließen – in Fabriken, wo Menschen unter unwürdigen Bedingungen schufteten und nebenbei die Umwelt zerstört wurde. Hauptsache, billig. Doch nun, mit dem Lieferkettengesetz, sollten die Hersteller in die Pflicht genommen werden, bis zum letzten Glied, in China, in Brasilien oder in anderen entfernten Ecken. Man will die Nachteile der Globalisierung nicht mehr hinter den Vorteilen verstecken, so lautet das Versprechen.

Verpasste Chance

Man könnte meinen, dass es in der Sache Konsens gibt. Weit gefehlt. Bereits Anfang Februar war eine Abstimmung zwischen den EU-Mitgliedsstaaten gescheitert. Vergangene Woche, bei einem Votum unter den Vertretern der EU-Staaten in Brüssel, hat der Entwurf neuerlich eine qualifizierte Mehrheit verfehlt. Neben Deutschland und Italien steht auch Österreich auf der Bremse. Einmal mehr tat sich eine Front zwischen Befürwortern und Kritikern des geplanten Regelwerks auf. Wer sie in Österreich sucht, findet sie auch zwischen den beiden Regierungsparteien.

Laut Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) zeigt das Ergebnis, "dass neben Österreich auch zahlreiche andere Länder Bedenken an der Umsetzbarkeit des vorliegenden Entwurfs hatten". Justizministerin Alma Zadić (Grüne) bezeichnete den Ausgang hingegen als "bitter". Man habe eine "historische Chance verpasst, Millionen von Kindern vor Ausbeutung zu schützen und unsere Umwelt vor weiterer Zerstörung zu bewahren". Kocher weiß die Wirtschaftsvertreter hinter sich, Zadić die Arbeiterkammer (AK), die SPÖ und NGOs. Die Argumente dafür und dagegen sind bekannt: Während die einen vor ausufernder Bürokratie warnen, hoffen die anderen auf eine bessere Wirtschaftswelt.

Nicht alle sind dagegen

Wer hat recht? Wer Antworten sucht, fragt am besten bei Unternehmen nach. Der schwedische Möbelriese Ikea etwa steht aufseiten der Befürworter des Gesetzes. Lässt sich eine Lieferkette nachzeichnen? Für Billy etwa, das bekannte Regal? Wo kommen die Teile her? Leider könne man die Infos so schnell nicht beschaffen, winkt man bei Ikea Österreich ab. Man halte sich aber schon jetzt an strenge unternehmenseigene Richtlinien.

Man hätte gerne mehr gewusst, immerhin flatterte dem schwedischen Händler im Vorjahr in Deutschland eine Beschwerde ins Haus. Eine in Berlin ansässige Menschenrechtsorganisation hat sie eingereicht, auf Basis des nationalen deutschen Lieferkettengesetzes, das bereits seit 2023 in Kraft ist. Fabriken in Bangladesch würden nicht ausreichend kontrolliert und gefährdeten die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Ikea verwies damals darauf, dass man "unter keinen Umständen Verstöße gegen Menschenrechte, Arbeitsbedingungen oder SicherheitsStandards in unserer Lieferkette" akzeptiere.

Der deutsche Handelsriese Tchibo ist auch einer der größten Kaffeeröster der Welt. Er zählt ebenfalls zu den Befürwortern eines EU-weiten Lieferkettengesetzes. Der Hamburger Konzern schickt schon heute Kontrolleure in die Region, von China über Vietnam bis nach Indien. Es geht darum, zu überprüfen, ob die Beschäftigten angemessen bezahlt werden und ob umweltbewusst produziert wird.

Erschwerte Bedingungen

Tchibo will ab 2027 nur noch verantwortungsvoll beschafften Kaffee anbieten. Kein leichtes Unterfangen. Die Auswirkungen des Klimawandels betreffen die Kaffeebauern besonders stark, Trockenheit und Dürre bedrohen ihre Lebensgrundlage. 70 Prozent der weltweit 12,5 Millionen Kaffeebauern bewirtschaften Kleinbetriebe. Die Einkommen sind gering, Kinderarbeit oder illegale Abholzung ist oft eine Frage des Überlebens.

Rund ein Fünftel des Kaffees, den der Konzern aus Brasilien bezieht, trägt Bio-Siegel oder ähnliche Label. So umwelt- und sozialverträglich wie möglich soll künftig der gesamte Kaffee angebaut werden. Dass das die Konsumenten nicht die Bohne interessiert, ist keine Option. Sie müssen bereit sein, einen höheren Preis zu zahlen. Zunächst einmal muss man aber unternehmensintern erforschen, woher der Kaffee genau kommt und unter welchen Bedingungen die Lieferanten arbeiten. Ein langer Weg.

Komplexe Systeme

Stefan Thurner kennt sich in der Welt der Lieferketten aus. Sein Forschungsgebiet sind komplexe Systeme. Lieferketten gehören dazu. Thurner beschäftigt sich damit am neuen Forschungsinstitut zu Lieferketten (ASCII) in Wien. Millionen an Firmen hätten Milliarden an Geschäftsbeziehungen, niemals könne man sie überblicken, sagt Thurner.

ASCII-Kollegen hatten untersucht, wie groß das Risiko ist, dass europäische Unternehmen in ihren Lieferketten Partner haben, die gegen Menschenrechte verstoßen. Der ernüchternde Befund: Mehr oder weniger deutliche Spuren von Menschenrechtsverletzungen dürften in sämtlichen Lieferketten vorkommen. In jedem T-Shirt, in jedem Gerät steckt mit hoher Wahrscheinlichkeit Kinderarbeit oder sonst ein Grundrechtsbruch. "Menschenrechtsverletzungen erkennen, das ist ein guter Gedanke", sagt Thurner, das Problem liege in der Umsetzung. "Plötzlich muss jedes KMU über seine Lieferkette einen Bericht machen."

Das Gegenteil von gut

Bei Dietmar Katinger rennt Thurner mit seinen Bedenken offene Türen ein. Katinger führt die Geschäfte von Polymun. Das Unternehmen entwickelt und produziert Arzneimittel in Klosterneuburg und arbeitet unter anderem mit deutschen Großkunden. Das deutsche Lieferkettengesetz macht ihm schon jetzt zu schaffen. Größere Unternehmen suchen Lieferanten wie Polymun an einen "Supplier Code of Conduct" zu binden, wie er auch von vielen großen Unternehmen freiwillig verwendet wird. Darin sind Verhaltenspflichten der Lieferanten festgeschrieben. Das Problem: Katinger müsste die Regelwerke aller Großkunden an seine Zulieferer weitergeben. "Wir haben 400 Lieferanten, ein Drittel davon betrifft Umsätze von weniger als 1000 Euro im Jahr", klagt Katinger. "Wir werden uns jetzt alle gegenseitig brav Fragebögen zuschicken und damit die Verantwortung vertraglich weiterschieben. Verbessern wird sich dadurch aber nichts, weil man ja nicht wirklich überprüfen kann, ob die Angaben richtig sind."

Bürokratiemonster nennen Wirtschaftsvertreter das Vorhaben der EU. Katinger sieht das ebenso. "Die Intention war vielleicht gut. Aber gut gemeint ist in diesem Fall eben das Gegenteil von gut", sagt der Unternehmer.

Er ist mit dem Einwand nicht allein. Ökonomen wie Harald Oberhofer von der WU Wien argumentierten, die Richtlinie könnte zu einem Rückzug europäischer Unternehmen aus Risikoländern führen, was deren wirtschaftlichen Aufschwung erst recht erschweren könnte.

Europas Kettenreaktion:

Gegenwind

Viel Gegenwind für eine Idee, die im Grunde alle gut finden. Stefan Giljum, ökologischer Ökonom an der WU Wien, findet sie auch gut. Er beschäftigt sich vor allem mit der Entnahme und dem Handel von Rohstoffen. Giljum befindet, die Richtlinie hätte das Potenzial, "ein Meilenstein auf dem Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaft zu sein". Das Problem, dass sich Unternehmen aus kritischen Regionen zurückziehen könnten, sieht auch er. "Aber es kommt sehr auf den Sektor an, ob ein Wechsel in andere Regionen überhaupt möglich ist", gibt Giljum zu bedenken. "Bei Kobalt kommen zum Beispiel 75 Prozent aus dem Kongo, bei seltenen Erden 70 Prozent aus China."

Auch andere Gegenargumente überzeugen den Ökonomen nicht – etwa jenes, dass Produktionsländer europäische Kunden schlichtweg aussondern und sich neue Absatzmärkte suchen könnten. "Bei einzelnen Produkten, bei denen es eine stark wachsende Nachfrage aus anderen Weltregionen gibt, könnte das passieren", sagt Giljum. Der europäische Markt habe in der Weltwirtschaft allerdings nach wie vor enormes Gewicht. Diesen gänzlich zu ignorieren könnten sich viele Produktionsländer nicht leisten. Apropos leisten: Mittel- und langfristig könnten Unternehmen finanziell sogar profitieren, glaubt Giljum: "Die Zeiten, in denen Emissionen nichts kosten, sind aufgrund von CO2-Zertifikaten und CO2-Steuern vorbei." Agieren Unternehmen ressourcenschonend und klimafreundlich, werde sich das auf Dauer auch ökonomisch rechnen.

Kompromiss möglich?

Ob sich die EU in den kommenden Monaten doch noch auf einen Kompromiss einigen kann, bleibt abzuwarten. So mancher kritisiert, dass die Diskussion erst jetzt so richtig aufkocht und die Richtlinie auf den letzten Metern verhindert wurde, wo doch die EU-Kommission vor mehr als zwei Jahren den Grundentwurf vorgelegt hat (siehe Wissen).

Die Länder hätten die Sache wohl nicht ernst genug genommen, sagt Susanne Kalss, Unternehmensrechtlerin und WU-Institutsvorständin. Sie findet, es gebe bereits Instrumente, die im Dienste der Sache stehen – zertifizierte Listen für "gute" Unternehmen, gesellschaftsrechtliche Sanktionen, eine Konfliktmineralienverordnung etwa. "Man muss von ein paar Dingen runtergehen", sagt Kalss.

Transparentere Informationen

Und nun? Ideen für Kompromisse gäbe es: Ökonomen wie Klaus Friesenbichler vom Wifo schlagen vor, mit Positivlisten zu arbeiten. Bestimmte "sichere" Regionen, Herkunftsländer oder Produzenten könnten aus der Richtlinie ausgenommen werden. Staatliche Institutionen oder NGOs würden dann entsprechende Listen aufsetzen und so Unternehmen zumindest teilweise entlasten.

Um die Kosten zu senken, könnte auch die Wissenschaft helfen – zum Beispiel mit der Vernetzung von Steuerinformationen, an der Stefan Thurner vom Lieferketteninstitut forscht. Um die Wertschöpfungsketten besser verfolgen zu können, sind laut Giljum gut zugängliche Daten zentral. "Oft ist nicht klar, welche Umweltfolgen ein bestimmtes Produkt hat", sagt der ökologische Ökonom. "Diese Folgen zu untersuchen ist ein Betrag, den die Wissenschaft leisten kann.

Kurzfristig würde die Richtlinie Zusatzkosten verursachen, gesteht Giljum ein. "Diese Kosten entstehen jedoch auch jetzt schon, nur an anderer Stelle." Derzeit zahlen eben nicht die Konsumenten oder Unternehmen, sondern die Menschen vor Ort. (Regina Bruckner, Jakob Pflügl, 2.3.2024)