Zugunglück von East Palestine, Ohio, Anfang Februar 2023
Das Zugunglück von East Palestine, Ohio, Anfang Februar 2023 (Drohnenaufnahme vom 4.2.2023) wirkt bis heute nach – und könnte die Wahlen im November beeinflussen.
AP

Sie lassen an ein Inferno denken: die kurzen Videos, die Leonard Stanley auf seinem Handy zeigt. Eine schwarze Rauchsäule steht bedrohlich über East Palestine, einem Dorf im Osten des US-Bundesstaates Ohio, nordwestlich von Pittsburgh. Wischt Stanley mit dem Finger über den Bildschirm, um nach älteren Aufnahmen zu suchen, dann sind irgendwann brennende Eisenbahnwaggons zu sehen. Er hat sie selbst gefilmt am Abend des 3. Februar 2023 – an einem Freitagabend, an dem ein Güterzug des Bahnunternehmens Norfolk Southern entgleiste und einige Waggons in Brand gerieten. Pizza Joe's, die Imbiss-Pizzeria, an deren Theke Stanley bedient, liegt direkt an der Bahnlinie, die hintere Wand keine zehn Meter von den Gleisen entfernt. Rollt einer der endlos langen Güterzüge vorbei, wie sie typisch sind für Amerika, ungefähr einer pro Viertelstunde, muss bei Pizza Joe's deutlich lauter gesprochen werden, damit Stanley versteht, was die Leute bestellen.

Zwei Tage nach dem Unglück ordnete der Gouverneur Ohios eine Evakuierung an: Um eine Explosion zu verhindern, sollten Chemikalien in entgleisten Tankwagen kontrolliert abgefackelt werden. Am vierten Tag, erzählt Stanley, habe er sein Imbisslokal wieder geöffnet – "und so ist es bis heute geblieben, weil ich bleibe, wo ich bin". Sagt's und ruft einem Kunden in spöttischem Ton zu, ob er etwa Angst habe, sich in East Palestine zu vergiften.

"EP strong"

Auf dem Tresen steht – neben einem Stiefel, in dessen Schaft man Dollarscheine werfen kann, um die lokale Feuerwehr zu unterstützen – ein Stück Pappe mit der Aufschrift "EP strong": East Palestine ist stark. Erst recht nach dem Zugunglück. Ähnliche Parolen, stets mit dem Wort "strong", tauchen in den USA immer dann auf, wenn es gilt, einen harten Schlag zu verdauen – sei es nach einem Terroranschlag, einem Hurrikan oder einer Havarie. Ein paar Meter weiter, in der Taggart Street, der parallel zu den Bahngleisen verlaufenden Hauptverkehrsader des Ortes, wird auf Plakaten sogar prophezeit, dass East Palestine das größte Comeback der amerikanischen Geschichte erleben werde. So weit will Stanley nicht gehen, Übertreibungen sind nicht seine Sache. "Das Leben geht weiter", sagt er. "Du machst einfach weiter, was sollst du auch sonst tun."

Ein Stiefel auf der Theke von 'Pizza Joe's, gedacht für Spenden für die lokale Feuerwehr.
Ein Stiefel auf der Theke von 'Pizza Joe's, gedacht für Spenden für die lokale Feuerwehr.
Frank Herrmann

So gelassen, sei die Gelassenheit nun echt oder gespielt, sehen es bei weitem nicht alle in East Palestine. Nach dem Unfall klagten etliche über Hautausschlag, Kopfschmerzen, ein Brennen in den Augen, über Nasenbluten. Einige Tankwagen – fünf der 38 entgleisten Waggons – transportierten Vinylchlorid, ein potenziell krebserregendes Gas, das bei der Plastikherstellung zum Einsatz kommt. Wird Vinylchlorid verbrannt, entstehen Chlorwasserstoff und Phosgen. Chlorwasserstoff kann zu schweren Verätzungen führen, Phosgen Erbrechen und Atembeschwerden verursachen. Auch deshalb, wegen der Fragezeichen, die nicht verschwinden, schwebt noch immer eine Wolke der Unsicherheit über dem Industriedorf mit seinen knapp 5.000 Bewohnerinnen und Bewohnern. Nicht nur, dass einige seit Monaten versuchen, ihre Häuser zu verkaufen, um wegziehen zu können – bislang ohne Erfolg. Nicht nur, dass East Palestine seinen größten Betrieb verloren hat, eine Fabrik namens Ceramicfab, die Spezialziegel für die Stahlindustrie produzierte. Was am meisten beiträgt zur Verunsicherung, ist das Risiko gesundheitlicher Langzeitfolgen.

Viele Fragezeichen

Chad Edwards, der Chef der Gemeindeverwaltung, stellt zwei Fragen, um es auf den Punkt zu bringen. Die erste: "Wie stelle ich sicher, dass jemand, der heute 20 ist, nicht schon im Alter von 40 Jahren stirbt, weil er schwer erkrankt und die Behandlung nicht bezahlen kann?" Die zweite: "Wie verhindere ich, dass jemand in 20 Jahren Bankrott anmelden muss, weil er nicht krankenversichert ist und all seine Ersparnisse für die Behandlung draufgehen?" Die lokalen Behörden kämpften dafür, dass keiner, der zum Zeitpunkt des Unglücks in East Palestine gelebt habe, ohne Krankenversicherung dastehe, wie es bei Millionen von Amerikanerinnen und Amerikanern der Fall sei. Man sei im Gespräch, mit Norfolk Southern wie auch mit der Regierung: Es ziehe sich hin. Bei alledem, schiebt Edwards hinterher, vertraue er der Environmental Protection Agency (EPA), der US-Umweltbehörde. Deren Wissenschafter seien nach gründlichen Tests zu dem Ergebnis gekommen, dass weder in der Luft noch im Wasser eine gefährliche Konzentration von Schadstoffen zu verzeichnen sei. Er habe keinen Grund, an der Kompetenz der Experten zu zweifeln.

Chad Edwards, Chef der Lokalverwaltung des Dorfes East Palestine, in seinem Büro.
Chad Edwards, Chef der Lokalverwaltung des Dorfes East Palestine, in seinem Büro.
Frank Herrmann

Die Sachlichkeit des Verwaltungschefs teilen nicht alle, was nicht zuletzt daran liegt, dass East Palestine mehr als ein Jahr nach dem Desaster noch immer ein Streitobjekt ist. Streitobjekt einer erbitterten politischen Kontroverse, aufgeladen mit Ideologie und Symbolik, einer Debatte, bei der Stereotype oft vor Fakten rangieren. Donald Trump und andere Republikaner des "America First" haben das Unglück zum Anlass genommen, um der Regierung des Demokraten Joe Biden einmal mehr zu unterstellen, sie vernachlässige das eigene Land.

Schwere Attacken

J.D. Vance, einer der beiden Senatoren Ohios in Washington, führt East Palestine als Paradebeispiel für den Bruch zwischen der Demokratischen Partei und der weißen Arbeiterschaft des Mittleren Westens an. Einer abgehobenen Elite, konzentriert in den Großstädten an den Küsten, sei es weitgehend egal, was im einstigen Kernland der Industrie, im heutigen Rust Belt, passiere. Tucker Carlson, eine der lautesten Medienstimmen des "Make America Great Again", behauptet sogar, Joe Bidens Bundesregierung habe nur deshalb so langsam auf den Krisenfall reagiert, weil die Bewohner East Palestines in ihrer Mehrheit konservativ seien, weiße Haut hätten und obendrein 2020 zu über 70 Prozent Trump gewählt hätten.

US-Präsident Joe Biden in East Palestine
Erst ein Jahr nach dem Unglück ließ sich US-Präsident Joe Biden in East Palestine blicken – ein folgenreicher Fehler?
REUTERS/ELIZABETH FRANTZ

Trump beeilte sich damals, das Dorf zu besuchen, zwei Wochen nach dem Brand auf den Gleisen, während Biden am selben Tag nach einem Überraschungsbesuch in der Ukraine in Polen weilte. Der US-Präsident kam erst jetzt, Mitte Februar – reichlich zwölf Monate nach den Rauchsäulenbildern, was auch Edwards, bei allem Verständnis, für ziemlich spät hält. Was bei alledem in den Hintergrund rückt, ist die Vorgeschichte. Es war der Präsident Trump, der Auflagen lockerte, die sein Amtsvorgänger Barack Obama durchgesetzt hatte, um Chemikalientransporte auf Schienen sicherer zu machen. Symboldebatten statt Sachpolitik: Je näher die Wahl im November rückt, umso hitziger dürfte der Streit um die Causa East Palestine werden.

Man sieht es schon jetzt an den "yard signs" – den Reklameschildern aus Plastikfolie, die an dünnen Eisenstangen im Boden verankert werden, etwa in den Vorgärten der Taggart Street: "Dr. Rick Tsai for Congress – Fix Spineless DC!", ist darauf zu lesen. Tsai, ein Chiropraktiker, dessen Vater aus China einwanderte, will für den US-Kongress kandidieren, um im vermeintlich rückgratlosen Hauptstadtbezirk District of Columbia Ordnung zu schaffen. Er nimmt Schadstoffproben in Bächen und verkündet hinterher, die Umweltbehörde tische East Palestine nichts als Lügen auf. Mitte März hofft Tsai bei den Vorwahlen der Republikaner die erste Hürde auf dem Weg nach Washington zu nehmen. Er baut darauf, dass Donald Trump ihn unterstützt. (Frank Herrmann aus East Palestine, 4.3.2024)