In nur drei Monaten sind Europawahlen – und liegen die internationalen Wahlforscher nicht ganz daneben, zeichnet sich in den 27 Mitgliedsstaaten eine klare Tendenz für den Urnengang Anfang Juni ab: Die rechten und extrem rechten Parteien könnten deutlich zulegen. Weniger bedeutend gewinnen da und dort auch linke EU-Skeptiker.

Die gemäßigten Parteien der Mitte, die sich als allesamt als "proeuropäisch" einordnen und verstehen und die das gemeinsame Europa über Jahrzehnte mühsam aufgebaut haben, verlieren Wählerinnen und Wähler. Alle vier: Christdemokraten der EVP, Sozialdemokraten der S&D-Fraktion, die Liberalen, die Grünen.

Für großen Jubel gibt es eigentlich keinen Anlass: Das Wahlergebnis für die einzige EVP-Kandidatin Ursula von der Leyen war mehr als mager.
Für großen Jubel gibt es eigentlich keinen Anlass: Das Wahlergebnis für die einzige EVP-Kandidatin Ursula von der Leyen war mehr als mager.
IMAGO/Alex Nicodim

Das schlägt sich laut Umfragen stark in den großen Staaten nieder, wo fast die Hälfte der EU-Bevölkerung lebt, wo viele Mandate im EU-Parlament vergeben werden: in Deutschland, Frankreich und Italien. Die extrem rechte AfD könnte sogar auf Platz zwei landen, noch vor der SPD.

Marine Le Pen gibt sich neuerdings moderat, sie möchte 2027 Frankreichs Staatspräsidentin werden. Ihre Bewegung könnte das gute EU-Ergebnis von 2019 noch übertreffen. Sie führt die extrem rechte ID-Fraktion an, der die FPÖ angehört.

Italien ist ein Sonderfall. Die postfaschistischen "Fratelli" Giorgia Melonis könnten die Lega von Matteo Salvini halbieren. Sie bemüht sich um konstruktive EU-Politik, strebt die Führung der Fraktion der Konservativen (EKR) an.

Wie sieht die Gegenrechnung aus? Christ- und Sozialdemokraten halten mit den Liberalen derzeit 421 von 705 Mandaten im Parlament. Sie konnten also eine (instabile) Dreierkoalition bilden, die die EU-Kommission von Ursula von der Leyen samt Arbeitsprogramm wählte und stützte. Wenn die drei verlieren, und die Grünen dazu, könnte es eng werden bei der Wahl der nächsten Kommission, weil auch nationale Länderinteressen mitspielen.

Keineswegs mitreißend

Man sollte annehmen, dass diese vier europatragenden Parteifamilien mit ihren zig nationalen Gruppen alarmiert sind, wie wild um die Wählerinnen und Wähler kämpfen würden. Fehlanzeige. Mit von der Leyen und dem weithin unbekannten EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit aus Luxemburg haben Christ- und Sozialdemokraten zwar "Spitzenkandidaten". Andere Kapazunder wollten erst gar nicht antreten, auch bei Liberalen und Grünen, die ein Spitzentrio bzw. -duo anbieten. Das wird die Wählerschaft kaum von den Sitzen reißen.

In den Wahlmanifesten zeigen die Traditionsparteien wieder Ecken und Kanten, das ist gut: Die EVP etwa forciert die Themen Sicherheit und Wirtschaft, die Sozialdemokraten setzen mit Schmit sehr auf ihr Leibthema Soziales. Aber das allein wird nicht reichen, um den antieuropäischen Populismus der Rechten zu brechen. Dazu braucht es massive positive Mobilisierung – und Einigkeit. Stattdessen wirft man einander sogar gegenseitig Prügel vor die Füße. Beispiel: der EVP-Kongress.

Obwohl einzige Kandidatin, wurde von der Leyen mit nur 81 Prozent Zustimmung zur Spitzenkandidatin gewählt. Hundert Delegierte gaben ihren Stimmzettel gar nicht erst ab. Vielen ist sie zu ökosozial, für die Franzosen "zu deutsch", zu links. Die ÖVP war extra auffällig. Sie lehnte das EVP-Wahlprogramm ab, noch bevor der Parteitag begonnen hatte. Bei solchen Rivalen kann die EU-feindliche Rechte in Europa jubeln. (Thomas Mayer, 9.3.2024)