Mit 92 Jahren ist Alexander Kluge nach wie vor ein hellwacher Denker und höchst origineller Beobachter der hochkomplexen Gegenwart.
Markus Kirchgessner/laif

STANDARD: Man hört heute oft die Kritik, Politik sei zu technokratisch geworden. Derweil kochen die Emotionen im Netz und den Medien über. Ihr neues Buch mit Stefan Aust ist ein Plädoyer dafür, Sachlichkeit mit erzählerischem Einfühlungsvermögen zu verbinden. Müssen wir uns mehr um diese Balance bemühen?

Kluge: Ich fürchte ja, wir schlagen uns oft zu sehr auf eine der beiden Seiten. Viele Medien neigen einerseits stark zu einer reinen Aktualisierung und Versachlichung, andererseits gleichen sie das künstlich aus durch persönlichen Bezug und Betroffenheit. Beides ist in dieser Vereinseitigung eine falsche Art des Erzählens. Wenn ich auf dem Seil tanze, muss ich die Balance halten. Wir Menschen sind gemischte Wesen und evolutionär sehr alt – zu einer Hälfte noch Tier, zur anderen modern. Werden unsere Gefühle missachtet, fangen wir an zu spinnen.

STANDARD: Sie sagen, wir müssen das Tierische in uns besser verstehen?

Kluge: Ja, dann würden wir uns selbst als Menschen besser verstehen. Wir haben immer noch eine Menge Vitalität, die von dort stammt. Nehmen Sie den Darm, das schöne Tier in uns, das einen eigenen Verstand hat. Dem können Sie vertrauen, der rettet Sie auch mal. Es kam vor, dass während des Zweiten Weltkriegs bei den Erschießungen im Osten die Kompanie plötzlich die Ruhr ergriff. Die Soldaten konnten nicht weitermachen. Sie wurden keine Verbrecher, weil ihr Darm klüger war als der Kopf.

STANDARD: Werden Gefühlslagen dämonisch, wenn man sie gesellschaftlich nicht klug integriert?

Kluge: Diese Beobachtung ist richtig. Disruption gehört zu den Tatsachen in der Welt, und ebenso, dass wir uns oft überschätzen. Die Leute sitzen vor dem Computer, schreiben Kommentare und denken, sie seien Herren der Welt. Das war bei den französischen Revolutionären nicht anders. Die haben große Sachen gemacht, ich verehre sie! Aber sie haben auch die Guillotine entwickelt. Auch das kommt aus diesem Allmachtsgefühl. Doch statt darüber zu jammern, frage ich lieber, wie man das wieder einsammeln kann, und suche mir Verbündete, mit denen ich wieder Lust auf die Vielfalt machen kann, die Menschen auch haben. Und das kann ich tun mit einem guten Gleichgewicht zwischen fantasievollem Erzählen und Sachlichkeit, zwischen Zerstreuung und Konkretion. Das spiegelt sich in meiner Zusammenarbeit mit Aust wider.

STANDARD: Sie fordern, die Medien sollen "erfahrungsgesättigt" berichten. Geht es um Krieg, gibt es aber kaum noch Journalisten, die das aus ihrer eigenen Biografie heraus können.

Kluge: Das ist eine schwierige Situation, die ich auch gar nicht verstehe. Ich habe den Krieg schon als Elfjähriger kennengelernt. Ich bin kein Experte für den Krieg, aber ich kann Ihnen sagen, wie es sich anfühlt, wenn es im April 1945 endlich vorbei ist. Alles ist zerstört, aber das Leben fängt wieder an: Die Backsteine werden sortiert, die Leute klauen wie die Teufel. Das ist eine Lebenserfahrung. Erfahrungsgesättigt zu berichten, das heißt nicht, ganz der Erfahrung zu verfallen. Aber wenn man keine eigene Erfahrung hat, kann man sich wenigstens die Mühe machen, das, was einem fremd ist, zu respektieren. Man muss mehr rausgehen und hinfahren. Nicht zuerst urteilen, sondern erst einmal Geschichten einsammeln, Sachverhalte klären und mit den Menschen reden. Nur so finden wir Lösungen.

STANDARD: Das spricht für die Reportage als das journalistische Format der Stunde. Die wird zudem nicht so schnell durch KI ersetzbar sein.

Kluge: Es gab die Stuttgarter Schule des Dokumentarfilms. Das war das Beste, was das öffentlich-rechtliche System in unserem Land zustande gebracht hat. Da war sogar Martin Walser, der eigentlich ein Poet ist, Reporter. Dieses Hingehen zu den Dingen ist etwas, das wir auch später mit dtcp.tv gemacht haben. Aust und ich waren mit unseren Teams da, als die Mauer fiel, als die Sowjetunion zusammenbrach und als in Ostdeutschland eine ganze Industrie lahmgelegt wurde. Der Erzähler namens "Wirklichkeit" ist immer klüger als wir Autoren oder Kommentatoren.

STANDARD: Eine Glanzzeit von Öffentlichkeit haben wir heute wohl nicht, eher eine große Zersplitterung und Verwirrung.

Kluge: Dass wir heute Teile der Öffentlichkeit verlieren, ist kein deutsches Problem. Wir leben in einer disruptiven Zeit. Schon die äußeren Ereignisse zerreißen uns. Eben noch ist Pandemie, dann sind wir beim Krieg in der Ukraine, dann bricht im Nahen Osten etwas aus. Wenn sie monatsweise wechselnde Krisen sehen, kann die Aufmerksamkeitsökonomie der Menschen nicht mithalten. Der Blick der Öffentlichkeit liegt immer nur auf einer Hauptsache.

STANDARD: Ist der Arbeitsspeicher der medialen Öffentlichkeit zu klein, um mehrere Großthemen angemessen nebeneinander zu verarbeiten?

Kluge: Das beobachte ich so. Und gleichzeitig haben wir mit den Big Five im Silicon Valley eine gewaltige Entwicklung, die eigentlich positiv ist: eine Inflation von Information – wie Sand in der Sahara, was ja dasselbe Material ist wie in den Silicium-Chips. Dadurch entsteht Zeitgeiz bei Menschen. Nach anderthalb Minuten werden sie unruhig, woanders etwas zu versäumen.

STANDARD: Auch viele Nutzer der großen Social-Media-Plattformen sehen sich dort als Teil einer unabhängigen Gegenöffentlichkeit. Dabei werden ihre Aktivitäten dort in Wahrheit durch Algorithmen und kommerzielle Interessen orchestriert.

Kluge: Ja, aber man soll sich deshalb nicht an die Klagemauer stellen. Denn gleichzeitig hat es eine so weitreichende Verbindung und Partizipation derart vieler Menschen nie zuvor gegeben. Die Algorithmen lassen natürlich vieles unserer Lebenswelt außen vor, und sie sind so etwas wie die verführerischen Sirenen im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit. Aber wir Menschen sind viel zu alte, komplexe Lebewesen, um uns da ganz zu unterwerfen. Wir können uns gleich jetzt dranmachen, als Patrioten der klassischen Öffentlichkeit Gegenalgorithmen zu bilden, die die Lücken ausfüllen.

STANDARD: Würden Sie das heute im großen Stil tun, wenn Sie an einem Punkt in Ihrem Leben stünden wie 1988?

Kluge: Mit Sicherheit. Menschen tun das ja auch schon. Das Digitale ist eine geniale Erfindung, und die Veränderungen sind faszinierend. Das Schalten und Schrauben der bisherigen Technik wird durch ein Wischen ersetzt, mit der Fingerspitze, deren Sensibilität Millionen Jahre alt ist. Damit haben sich unsere Vorfahren in das Fell der Mutter gekrallt, wenn sie flüchten mussten. Auch die Fingerspitze und das Fingerspitzengefühl sind ein kleiner Kopf für sich. Dort kann Vertrauen entstehen.

STANDARD: Sie klingen sehr optimistisch. Die Frankfurter Schule als die jahrzehntelange philosophische Stichwortgeberin der Linken würde etwas anderes sagen: Der Mensch war mal komplex, aber die Medien, die Kulturindustrie und nun auch die Algorithmen haben ihn eindimensional werden lassen.

Kluge: Das ist richtig, und ich bin ein treuer Gefolgsmann der Kritischen Theorie. Einen Verblendungszusammenhang – einen Mythos und ein brennendes Troja, das Adorno zu einem Ausgangspunkt seiner Betrachtungen machte – gibt es auch heute noch. Ich sehe das beispielsweise in der Ukraine, die auch brennt. Aber wo ein Theaterbrand ist, gibt es auch einen Notausgang. Den müssen wir finden, und das kann man nur zu mehreren. Deshalb habe ich immer mit anderen zusammengearbeitet, bei dtcp waren es unter anderem die NZZ und der Spiegel. Auch beim Neuen Deutschen Film waren wir mehrere, unter anderem Volker Schlöndorff und Rainer Werner Fassbinder. Ebenso in der Gruppe 47. Keine Einzelnen, die sich groß aufspielen und die Welt erklären, sondern Menschen, die zusammenarbeiten.

STANDARD: Auch Leute aus der Reichsbürger-Szene würden vermutlich unterschreiben, dass wir dringend eine unabhängige kritische Gegenöffentlichkeit brauchen.

Kluge: Das beobachte ich auch. Wir haben einen Konflikt im Indopazifik, den keiner gewinnen könnte, weil das ein großes Minenfeld ist. Wir haben einen hochgefährlichen Konflikt im Nahen Osten, und wir haben nicht die Mittel, einen Dreißigjährigen Krieg mit Russland zu führen. Aber eine gemeinsame Plattform wie die Agora im antiken Athen, wo sich alle treffen und all dies diskutieren, gibt es nicht mehr. Agora heißt "Marktplatz", und es ist auch ein Markt der Meinungen. Da wird Theater gespielt, da wird philosophiert – Sokrates läuft dort herum –, und es wird Politik gemacht. Allein kann man so etwas nicht wiederherstellen. Wenn ich jetzt rausgehe und das versuche, bin ich eine Karikatur, und die Menschen werfen mir Geld in meinen Hut. Ich kann es nur mit mehreren tun, und ich muss es heute im Netz tun. In derselben Zeit, in der wir hier reden, könnten wir weiterarbeiten.

STANDARD: Sie mögen das abstrakte Reden über die Probleme nicht.

Kluge: Schauen Sie, ich habe nicht furchtbar viel gegen etwas, ich beobachte die Dinge erstmal, wundere mich manchmal, und dann suche ich einen Druckpunkt, wo ich zusammen mit anderen praktisch etwas tun kann. Das ist eine andere Denkform, als zu sagen: Der hat recht und jener hat unrecht. Gerade weil ich ausgebildet bin als Jurist, weiß ich: Ein guter Jurist kann sich des Urteilens enthalten, solange der Tatbestand nicht festgestellt ist. Dass ich dabei viele negative Beobachtungen mache, können Sie mir glauben. Aber wenn ich denke, ich bin allmächtig in meinen Analysen, habe ich schon verloren. Ebenso, wenn ich sage: Ich bin ohnmächtig.

STANDARD: In der Netz-Gegenöffentlichkeit, die sich u. a. gegen die Klimabewegung, Wokeness und Gendern formiert, finden sich durchaus auch Angehörige der Achtundsechziger-Generation. Ist das verletzter Stolz, weil sie die neuen sozialen Bewegungen nicht mehr anführen?

Kluge: Achtundsechziger? Joschka Fischer etwa, den ich vielleicht als solchen bezeichnen würde, sagt dazu nichts, auch unser Altkanzler Schröder nicht. Und was ich nicht weiß, würde ich auch erstmal nicht behaupten und besprechen. Was ich Ihnen erklären kann, ist, wie wir als Menschen funktionieren. Wir haben ein Zwerchfell, und das fängt an, hemmungslos zu lachen, wenn sich irgendeiner aufplauzt und quasiautoritär auftritt. Dann lachen wir Menschen, und das kann überall passieren, auch in der Öffentlichkeit.

STANDARD: Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie sehr Sie in den 1970er-Jahren die Erfahrung des autofreien Sonntags beeindruckt hat. Würde uns heute ein medienfreier Sonntag guttun?

Kluge: Da würden Sie großen Protest ernten. Die autofreien Sonntage haben uns den Kopf zurechtgesetzt. Wir hatten uns eine Welt, in der keine Autos fahren, nicht mehr vorstellen können. Und plötzlich sahen wir nur noch ein paar Ärzte herumfahren. Mir wurde damals klar: Ich bin nicht der Sklave meines Autos. Das hat mir mehr zu denken gegeben als alle Nachrichten der Welt.

Buchcover
Stefan Aust, Alexander Kluge, "Befreit die Tatsachen von der menschlichen Gleichgültigkeit – Gespräche und Projekte". € 24,70 / 336 Seiten. Piper-Verlag, 2023
Piper Verlag

STANDARD: Wie können wir heute die Litanei durchbrechen?

Kluge: Wenn zum Beispiel eine Tagesschau-Sprecherin, weil sie erschüttert ist, plötzlich anfängt zu summen – was eine Mutter zur Beruhigung ihres Kindes tut, wenn etwas ganz Schlimmes passiert ist –, dann würde mich das erschüttern! Würden wir so etwas erleben, unterbräche es die Litanei. Es würde uns an unsere Kinderzeit erinnern. Als wir getröstet wurden und dann doch einschlafen konnten. Doch das wird nicht geschehen. Aber ich kann mich selbst rausnehmen und mir etwas vorstellen, was nicht in der Aktualität ist. Eben noch schaue ich die Nachrichten und bin verzweifelt wegen der Geschehnisse in der Ukraine. Und jetzt gucke ich auf etwas anderes, einen Stummfilm etwa. Der hat damit nichts zu tun, der kennt das gar nicht. Anschließend bin ich brauchbarer für die Zeitbetrachtung. Und womöglich ist das ein Moment, um einen Ausweg zu entdecken.

STANDARD: Durch die Köpfe der Menschen läuft ein ständiger Strom von Nachrichten, von dem sich manche erdrückt fühlen. Müssen wir den Rest unseres Körpers wieder bewusster bewohnen, um nicht irre zu werden?

Kluge: Den Körper müssen wir besser bewohnen, aber auch den Geist und die Seele. Wir brauchen Wohnungen für unsere Erfahrungen, und darin muss es die passenden Möbel geben. Von Zeit zu Zeit müssen wir unsere geistige Inneneinrichtung entrümpeln und uns neu einrichten, um in der Welt zu bestehen. Ein Bauhaus der geistigen Inneneinrichtung wäre das Gebot der Stunde. Etwas von dem Mobiliar, das überflüssig ist – die wuchtigen Büfetts, die großen Schränke –, rausschaffen. Ich rede zum Beispiel vom übersteigerten moralischen Anspruch an andere Nationen, der sich in der deutschen Außenpolitik zeigt. Im Moment haben wir eine sehr altmodische Art, uns innerlich einzurichten. Da gehören praktischere Möbel rein.

STANDARD: Trotzdem führen auch alle praktischen Bestrebungen immer wieder zu Irrtümern.

Kluge: Und die kann man als Bergwerk für neue Ideen nutzen. Aber man darf die früheren Irrtümer nicht immer wiederholen, man muss sie erforschen. Wenn ich das Erstarken der AfD betrachte, dann muss ich zurückgehen in das Jahr 1929. Da hätte man den Hitler verhindern können. 20.000 Lehrer und Lehrerinnen in der Erwachsenenbildung hätten den Mann, der nur vier Prozent der Stimmen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen hatte, das Handwerk legen können. Dann hätten wir 1945 nicht im Keller sitzen müssen. Auch heute können wir uns um das kümmern, was 2032 nicht passieren soll. Anders als die Tiere haben wir als Menschen die Fähigkeit, uns in den Kopf des anderen hineinzuversetzen und uns vorzustellen, was hinter dem Berg ist. Wir können in der Möglichkeitsform denken. Wenn ich mit 800 guten Leuten verbunden bin, dann ist das genau meine Absicht. Und ich glaube, dass es diese 800 gibt. Ein paar sind auch schon gestorben, wie Heiner Müller oder Adorno. Aber die können uns immer noch helfen. Zusammen mit ein paar Toten sind wir doch eine mächtige Fraktion. (Oliver Geyer, 10.3.2024)