Ein abgedunkelter Raum, schallisoliert, mit einem einzigen Stuhl in der Mitte. In kugelförmiger Anordnung sind unzählige Lautsprecher montiert. Man fühlt sich wie in einer Raumstation aus einem Science-Fiction-Film der 80er Jahre. Hier werden jedoch nicht die Tiefen des Weltalls, sondern die Tiefen der menschlichen Wahrnehmung erforscht. Die Raumstation ist in Wahrheit eine der Schallkammern am Institut für Schallforschung (ISF) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Ein Team von Wissenschafter:innen betreibt hier Grundlagenforschung in der Akustik.

Roman Fleischmann, Studentischer Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Auditory Cognitive Neuroscience am ISF, begrüßt uns in seinem Büro. Sofort fallen die zwei übereinandergestapelten Club-Mate-Kisten auf. "Als Wissenschaftler hat man nun mal oft lange Arbeitstage. Das ist meine Alternative zur ewigen Kaffeetrinkerei", lächelt er. Der Psychologe ist seit anderthalb Jahren am ISF, als Praktikant wollte er eigentlich nur etwas in den wissenschaftlichen Betrieb des Fachbereichs Hören am Institut hineinschnuppern, mittlerweile erforscht er ein eigenes Thema innerhalb der Arbeitsgruppe.

"Wir forschen an der menschlichen Hörwahrnehmung. Dabei geht es jedoch nicht um die physikalischen Funktionen des Ohrs, sondern um die Art, wie das Gehirn Schallinformation verarbeitet." Man könne sich das wie Software und Hardware vorstellen. "Mich interessiert nicht der Computer an sich, sondern die Programme, die in ihm ablaufen."

Wahrnehmung als kreativer Prozess

Wahrnehmung ist ein kreativer Prozess. Würde unser Gehirn die eintreffenden Signale, die es von den Ohren bekommt, eins zu eins übernehmen, würden wir kaum etwas verstehen. Unsere akustische Umwelt ist viel chaotischer als sie uns erscheint. Irgendwie schafft es das Gehirn, aus einem oft uneindeutigen Signal, das voller Störeinflüsse ist, die relevanten Informationen zu isolieren. Etwa, wenn man in einem Raum voller Leute einem bestimmten Gespräch lauschen möchte. Inmitten des Stimmengewirrs schaffen wir es, die störenden Inputs zu unterdrücken und dem Gespräch zu folgen.

"Dabei spielen implizite, also unbewusste Erwartungen eine große Rolle", erklärt Roman. Hörwahrnehmung geschehe immer unter einem großen Maß an Unsicherheit. Die Signale, die auf unser Ohr treffen, können also auf unterschiedliche Arten interpretiert werden. Um aus diesem uneindeutigen Signal präzise Informationen herauszuziehen, nutzen wir natürlich das Signal selbst. Vorwissen aus früheren Hörereignissen spielt jedoch auch eine große Rolle. Dieses Vorwissen kann entweder weit in der Vergangenheit gewonnen oder ganz frisch sein, beispielsweise die Richtung, aus der ein Geräusch kommt. Unser Gehirn nutzt also nicht nur eintreffende Signale, sondern auch Vorwissen, um Reize aus der Umwelt möglichst korrekt zu interpretieren.

Das elektrische Gehirn

Die Forscher:innen am ISF können einiges, aber sie können ihren Versuchspersonen nicht direkt in den Kopf schauen. "Wir erfahren viel über die Mechanismen hinter der auditiven Wahrnehmung über Verhaltensexperimente", meint Roman.

Informationen werden in unserem Gehirn durch elektrische Impulse transportiert. Diese lassen sich mittels eines Elektroenzephalogramms (EEG) messen. Viele kleine Elektroden werden dazu an der Kopfhaut der Versuchspersonen platziert, welche die elektrischen Signale im Schädelinneren aufzeichnen.

"Wir präsentieren unseren Versuchspersonen Reize, die wir auf eine für uns interessante Weise manipulieren", erklärt Roman. Zum Beispiel werden Geräusche verwendet, die schwer zu lokalisieren sind. Die gemessenen neuronalen Reaktionen können dann mit Reaktionen auf eindeutige Töne verglichen werden. So wird versucht, jene Prozesse im Gehirn zu isolieren, die speziell in Reaktion auf die uneindeutigen Töne auftreten.

Elektroenzephalogramm (EEG)
Mittels Elektroenzephalogramm (EEG) erforschen die Wissenschaftler:innen am Institut für Schallforschung der ÖAW jene neuronalen Mechanismen, die unserer Hörwahrnehmung zugrunde liegen.
ÖAW/Klaus Pichler

Soundsystem Deluxe

Anfang des Jahres ist das ISF ins ehemalige Postsparkassengebäude umgezogen. Der prachtvolle Otto-Wagner-Bau befindet sich nur wenige Schritte vom Schwedenplatz entfernt. Das Herz des Instituts bildet das Labor, welches gerade noch fertig eingerichtet wird.

"Der Umzug bedeutet sehr viel Aufwand, wir müssen unter anderem mehrere Schallkammern übersiedeln. In einem von diesen Räumen befinden sich fast hundert Lautsprecher, in anderen sind Messsysteme, die ganz genau kalibriert werden müssen", so Laboringenieur Michael Mihocic. Das Labor ist ein großer, lichtdurchfluteter Raum. Darin befinden sich mehrere containerartige Kammern, in denen Töne ohne Störgeräusche und möglichst präzise gemessen werden können.

Michael führt uns zu der Raumstation, die in Wahrheit ein Lautsprecher-Array-Studio (LAS) ist. Ein stolzes Grinsen huscht über sein Gesicht, als er erklärt, dass in diesem Raum 91 Lautsprecher in Form einer einzigen großen Kugel montiert sind, inklusive zwei Subwoofern mit vier Subwoofer-Kanälen.

"Da die Lautsprecher rund um uns herum platziert sind, können wir Töne aus allen Richtungen wiedergeben. Wir können hier drinnen zum Beispiel die Raumakustik des Wiener Musikvereinssaal simulieren." Dabei wird berechnet, wie stark der Schall von den Wänden des Saales reflektiert wird, dieser Hall kann dann über die entsprechenden Lautsprecher wiedergegeben werden. "Man kann sowohl das Hörerlebnis auf den Zuschauerrängen als auch vorne beim Dirigenten simulieren."

LAS/loudspeaker-array-studio
Im LAS/loudspeaker-array-studio können verschiedenste akustische Umgebungen simuliert und Experimente durchgeführt werden.
ÖAW/Klaus Pichler

Ein Modell der Wahrnehmung

Wir verlassen das Labor und begeben uns in ein großes, helles Büro mit fabelhaftem Ausblick auf den ersten Wiener Gemeindebezirk. Hier ist der Arbeitsplatz von David Meijer. Es dauert einen Moment, bis David Notiz von uns nimmt. Durch große Kopfhörer von der Außenwelt abgekapselt, lehnt er über seinem Schreibtisch.

David forscht ebenso in der Arbeitsgruppe Auditory Cognitive Neuroscience am ISF, speziell im Bereich Computational Cognitive Neuroscience, eine Subdisziplin der Neurowissenschaft, die versucht, kognitive Prozesse im Gehirn mathematisch zu analysieren und zu modellieren. David beschäftigt sich mit wahrnehmungsbezogenen Entscheidungsprozessen.

"Es ist schwer, einen einzelnen kurzen Ton im Raum zu lokalisieren. Wenn wir jedoch mehrere Töne nacheinander hören und diese Informationen integrieren, kann das Gehirn quasi einen Durchschnittswert der Position der Geräuschquelle berechnen und somit besser erfassen, woher die Töne kommen." Was passiert aber nun, wenn eine zweite Geräuschquelle hinzukommt? Wie entscheidet das Gehirn, welche Reize integriert und welche getrennt werden müssen?

"Hier nutzen wir Algorithmen aus der Wahrscheinlichkeitstheorie, um sogenannte Ideal-Observer-Modelle zu erstellen", erläutert David. "Ideal-Observer-Modelle simulieren Wahrnehmungsprozesse, bei denen aus wahrscheinlichkeitstheoretischer Sicht stets optimale Entscheidungen getroffen werden. Diese Modelle vergleichen wir dann mit den Daten, die wir aus Experimenten mit unseren Versuchspersonen bekommen." David und seine Kolleg:innen können somit untersuchen, wie die Wahrnehmungsentscheidungen der Versuchspersonen von den optimalen Entscheidungen der Modelle abweichen. "Somit bekommen wir Einblicke in die zugrundeliegenden Mechanismen", führt David aus. "Wir erlangen somit ein tieferes Verständnis dafür, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen und wann und wo wir Fehler machen, wie zum Beispiel bei auditorischen Illusionen."

Elektrische Hörprothesen

Was am ISF besonders auffällt, ist der Fokus auf Interdisziplinarität. Musikwissenschafter:innen, Elektrotechniker:innen, Psycholog:innen sowie Physiker:innen und Forscher:innen aus allen anderen möglichen Forschungsbereichen arbeiten hier gemeinsam.

"Das ist auf jeden Fall von Vorteil, besonders im Kontext der Implantate", sagt Martin Lindenbeck. Er ist Doktorand am ISF und forscht zu Cochlea-Implantaten in der Projektgruppe Psychophysics and Audiology, "dem Hörgerät 2.0", wie er sie beschreibt. Hörgeräte kommen zum Einsatz, wenn bestimmte Zellen im Ohr nicht mehr funktionstüchtig sind und somit gewisse Frequenzen nicht mehr gehört werden können. Klassische Hörgeräte verbessern die Hörfähigkeit auf dem akustischen Weg, sie funktionieren praktisch wie Lautsprecher. Die betroffenen Frequenzen werden selektiv verstärkt im Ohr abgespielt.

Cochlea-Implantate, Hörprothese
Cochlea-Implantate dienen nicht nur als Hörprothese, sondern ermöglichen den Wissenschafter:innen am ISF außerdem, Hörwahrnehmung auf einer sonst kaum zugänglichen Ebene zu untersuchen.
ISF/ÖAW

Wenn jedoch zu viele Zellen ausfallen, helfen diese klassischen Hörgeräte nicht mehr. "Cochlea-Implantate können den Hörnerv direkt anregen. Dieser beginnt hinter den Zellen, die den Schall umwandeln. Die Implantate ersetzen den gesamten akustischen Teil des Ohrs, also Außenohr, Mittelohr und Innenohr oder Cochlea, wo das akustische Signal in ein elektrisches umgewandelt wird."

Die Implantate werden in chirurgischen Eingriffen direkt in die Cochlea eingeführt. "Unsere Forschung befasst sich unter anderem damit, wie wir den Hörnerv so stimulieren können, dass das Implantat möglichst normales Hören ermöglicht." Das funktioniere in der Praxis schon recht gut. Martin betont, dass es in seiner Forschung jedoch nicht um Medizintechnik geht. Ihn interessiere, was die Basis des "elektrischen Hörens" sei, wie sich also Hören mit einem Cochlea-Implantat vom "normalen" Hören unterscheide.

"Mit dem Cochlea-Implantat können wir den Hörnerv sehr präzise stimulieren und haben somit zusätzlich die Möglichkeit, grundlegende Theorien über die Hörwahrnehmung auf einer sonst nicht oder nur schwer zugänglichen Ebene zu untersuchen." Hier treffen Grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung aufeinander.

"Wenn wir etwas Neues herausfinden, dauert es nicht lange, bis wir dieses Wissen an Implantat-Firmen weitergeben können", erzählt Martin. Die menschliche Hörwahrnehmung wirkt geheimnisvoll, doch durch Interdisziplinarität und Teamarbeit schaffen es die Forscher:innen am ISF, diese offenen Fragen Stück für Stück zu entschlüsseln. (Valentin Pellegrini, 19.3.2024)