Den Krieg in der Ukraine bloß vom Schreibtisch aus zu beobachten kommt für den österreichischen Militäranalysten Franz-Stefan Gady nicht infrage. Regelmäßig reist der 41-Jährige an die Front, um dort nachzuforschen, wie es um die Kapazitäten der ukrainischen Truppen steht. Etwa indem er Interviews mit Soldaten verschiedenster Dienstgrade führt, von hohen Offizieren in Kiew bis zu Kommandanten auf dem Schlachtfeld.

Zuletzt war Gady, der unter anderem für das Londoner Institute for International Strategic Studies (IISS) arbeitet, im Februar und März im Osten der Ukraine unterwegs, von Saporischschja im Süden führte ihn seine gefährliche Reise über Awdijiwka und Bachmut bis Lyman im Norden – als Teil einer Gruppe internationaler Militäranalysten.

Ukrainische Soldaten an einer Haubitze.
Auch wenn der Ukraine durchaus Munition fehlt, dringlicher noch ist der Personalmangel in den Reihen der Armee, sagt Analyst Gady.
REUTERS/RFE/RL/Serhii Nuzhnenko

"Grundsätzlich ist die Moral in der Truppe noch immer sehr gut, auch wenn natürlich Müdigkeit spürbar ist, weil viele der Soldaten seit Monaten kämpfen", schildert er. Und: "Das Narrativ hier im Westen, wonach der Munitionsmangel das größte Problem der Ukraine ist, kann ich so nicht bestätigen." In einem Telefonat mit dem STANDARD skizziert Gady, womit die Ukraine aus seiner Sicht im Moment tatsächlich am meisten zu kämpfen hat: "Erstens der zunehmende Personalmangel, zweitens die mangelnden Befestigungsanlagen."

Kiew gehen die Soldaten aus

So müsse die Kiewer Regierung besser heute als morgen politische Entscheidungen treffen, die dazu führen, dass mehr Menschen mobilisiert, ausgebildet und schließlich bis Herbst zur Truppe geführt werden können, sagt Gady. Passiert das nicht, laufe die Ukraine Gefahr, ihre Verluste bald nicht mehr ausgleichen zu können. "Das Gleichgewicht würde sich dann immer mehr zugunsten Russlands verschieben. Wegen der mangelnden Personalreserven der Ukrainer könnte es dann zu einem tieferen Durchbruch kommen."

Franz-Stefan Gady Porträt.
Franz-Stefan Gady war zum wiederholten Mal an der ukrainischen Front.
Bastei Lübbe/Katharina Maria Zimmermann

Nun räche sich auch, dass die Ukraine viel zu spät damit begonnen habe, ihr Hinterland ausreichend zu befestigen. 2023 hatte Russland das lange Warten der Ukraine auf westliche Waffenlieferungen bekanntlich genutzt, um entlang der Frontlinie eine unüberwindbare Barriere zu errichten – benannt nach dem mittlerweile in Ungnade gefallenen Befehlshaber Sergej Surowikin. "Es wäre auf jeden Fall notwendig, ein ukrainisches Pendant zur Surowikin-Linie zu bauen", sagt Gady. Während Russland aber über eigene Organisationseinheiten für den schnellen Bau von tiefgestaffelten Verteidigungsanlagen verfügt, fehlt es der ukrainischen Armee nicht nur an adäquatem Pioniergerät, sondern auch an geeigneten Strukturen. Ein so gewaltiges Abwehrnetzwerk aufzubauen brauche zudem Zeit, sagt Gady. Zeit, die Kiew womöglich davonläuft. "Es ist unrealistisch, dass dies innerhalb weniger Wochen gelingt. Die Ukraine hat außerdem nach wie vor ein Defizit an Panzer- und Antipersonenminen", sagt Gady.

Russen suchen Schwachstellen

Den oft beklagten Munitionsmangel vor allem im Bereich schwerer Artillerie hält Gady hingegen für "im Moment noch nicht kritisch". Und auch die beiden anderen von ihm konstatierten Probleme, Personalmangel und schwache Abwehrstellungen nämlich, würde der Analyst aktuell nicht als kriegsentscheidend einstufen. Doch dürfe man nicht außer Acht lassen, dass 2024 für die ukrainische Armee eigentlich als Aufbaujahr gedacht war, um dann 2025 wieder Offensiven möglich zu machen – davon, so Gady, sei man angesichts der Personalsituation weit entfernt.

Ukrainische Soldaten.
So wie diese Männer hier in einer Kaserne in Kiew müssten dringend mehr Soldaten einrücken – einfach ist das nicht.
AP/Efrem Lukatsky

Noch mehr Druck auf die ukrainischen Verteidiger erwartet der Analyst südlich von Saporischschja, etwa bei Orihiw und Robotyne. Westlich von Awdijiwka, wo "die Ukrainer die Front derzeit nur mittels energischer Gegenangriffe stabil halten können", dürfte die russische Armee in Richtung des Verkehrsknotens Pokrowsk streben. Besonders gefährlich für die Ukraine: Ihre Verteidigungsanlagen sind dort bisher nur rudimentär befestigt. Auch westlich von Bachmut, konkret bei Tschassiw Jar, drohen Gady zufolge weiterhin intensive Angriffe. Russland dürfte dort früher oder später versuchen, die ukrainische Hauptverteidigungslinie zu umklammern, die sich zwischen Kramatorsk und Slowjansk befindet. Gefahr drohe aber auch weiter nördlich, nämlich bei Lyman in Richtung Torske.

"Noch ist die Situation nicht wirklich prekär, das kann sich aber in den kommenden Monaten ändern, wenn die Probleme nicht bald gelöst werden", warnt Gady.

Neuer Befehlshaber

Und wie denkt man in der Truppe über den neuen Befehlshaber Olexandr Syrskyj, den Präsident Wolodymyr Selenskyj Anfang Februar anstelle des populären Walerij Saluschnyj als Oberbefehlshaber installiert hat? "Die Meinungen sind da sehr geteilt, weil Syrskyj als Mensch sehr polarisiert. Unter den Soldaten gilt er als Offizier sowjetischer Schule, der militärische Disziplin rigoros durchsetzt. Beliebt ist er nicht. Wir müssen erst abwarten, ob er die neue Strategie, nämlich aktive Verteidigung, ohne größere Verluste wird durchsetzen können." (Florian Niederndorfer, 19.3.2024)