Karl Kraus (1874–1936) sammelte gewissenhaft die Zeugnisse einer überschießenden Kriegsbegeisterung – und montierte sie zu einer Chronik der Schrecknisse.
Karl Kraus (1874–1936) sammelte gewissenhaft die Zeugnisse einer überschießenden Kriegsbegeisterung – und montierte sie zu einer Chronik der Schrecknisse. "Die letzten Tage der Menschheit" bilden ein unvergängliches Mahnmal wider den Bellizismus.
Hilscher, Albert / ÖNB-Bildarchiv

Die Gräuel des Ersten Weltkriegs (1914–1918) betrafen Millionen von Menschen. Die törichte Unbedenklichkeit der europäischen Staatskanzleien führte zu einer Massenschlächterei, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Der Wiener Satiriker Karl Kraus war gesonnen, jedes der zahllosen Opfer ausdrücklich persönlich zu nehmen. Dabei sah sich der Herausgeber der "Fackel" keineswegs als Nestbeschmutzer. Er sei derjenige Vogel gewesen, der es beschmutzt vorgefunden habe.

Indem sich Kraus die Übeltäter der Zentralmächte, die Verweser der Donaumonarchie wie des deutschen Kaiserreichs, satirisch zur Brust nahm, widmete er sich der Aufgabe umso lieber, je naheliegender sie war. Kraus ging, um nur die kosmische Dimension der Katastrophe keinesfalls aus den Augen zu verlieren, vom "besondersten und erlebtesten Anlass" aus. Er kehrte, mit einem Wort, vor der eigenen Tür. Vor dieser dröhnten spätestens nach Ermordung von Thronfolger Franz Ferdinand 1914 die Stimmen der Zeitungsausrufer: "Extraausgabee –! Da Täta vahaftet!"

Tönende Denkmäler

In seinem Mars-Drama "Die letzten Tage der Menschheit" setzte er als Rufer in der Wüste Schurken wie Mitläufern tönende Denkmäler. Den Kasino-Besuchern, den Schiebern, Schreihälsen von Durchhalteparolen. Den Generalfeldmarschällen, die sich an den einfachen Soldaten immer brutaler vergingen: indem sie diese, um das Maß der eigenen Unfähigkeit vollzumachen, an ihrer statt sterben ließen.

Die Profiteure des Krieges sollten – so meinte Kraus – von den Zeugnissen der Dürftigkeit wie der Schande überlebt werden, die sie über die Menschheit gebracht hatten. 209 Szenen umfassen die fünf Akte der Buchfassung von "Die letzten Tage der Menschheit". Das Taschenbuch zählt rund 800 Seiten, und man begegnet einer ganzen Reihe von Personen unaufhörlich wieder. Kaiser sind unter ihnen, Dichter, Dämonen und Gemeine, eine hyänenhafte Kriegsberichterstatterin namens Schalek.

Man wird nicht sagen, dass man diese Schießbudenfiguren irgendwann ins Herz geschlossen hätte. Es sind Kerle in Kaisers Rock, die an der Wiener Sirk-Ecke die Hacken voreinander zusammenschlagen. Die einander blühenden Unsinn ins Antlitz sagen, wenn sie gerade nicht durch die flüchtige Betrachtung weiblicher Reize vom Nichtdenken abgelenkt sind. "Grüß dich Powolny! Also du – du bist ja politisch gebildet, was sagst?"

Blut und Druckerschwärze

Der Großteil der von Kraus zitierten Figuren hat real gelebt. Schlimmer noch: Die monströsesten Sätze, die in dem Drama geäußert werden, wurden so gesagt, aufgezeichnet – und durch die patriotische Presse hunderttausendfach verbreitet. Nicht allein die Kriegsgeilheit reizte Kraus bis aufs Blut. "Im Krieg geht's um Leben und Tod der Sprache!" Aus den Wunden der Weltgemeinschaft tropfte Druckerschwärze.

Dass Millionen junger Männer in Feldgrau gesteckt und zur Schlachtbank getrieben wurden, war bereits ein Übel empörenden Ausmaßes. Darüber hinaus wurden bei dem Gemetzel auch noch "Bombengeschäfte" gemacht.

Die kriegführenden Nationen pfiffen aus dem letzten Loch. Berichterstatter weideten sich derweil an "chlorreichen Offensiven". Sie redeten in der Kitschsprache einer alten, völlig verfehlten Ritterlichkeit. Zur selben Zeit entfesselte die Kriegswirtschaft ungeahnte Produktivkräfte: Kraus nennt es das Überhandnehmen der "Quantität".

Etappe und Hinterland

So mischen sich die Sphären. Veranstaltet wird ein industrielles Massensterben. "Weil wir zum Schwert greifen, mussten wir zur Gasbombe greifen. Und wir führen diesen Kampf bis aufs Messer." Statt ihres Tornisters tragen die Figuren in "Die letzten Tage der Menschheit" Säcke voller Phrasen. Sie retten sich damit in die Etappe oder ins Hinterland. Doch auch dort lässt ihnen die Mordssprache keine Ruhe.

Man muss, um das Ausmaß dieses Weltuntergangs auf Raten zu ermessen, tatsächlich Helmut Qualtingers vielzüngiger Lesung (aufgenommen seit 1962) lauschen: der famosen Hinterfotzigkeit, die zuerst vor Siebensüßigkeit trieft, um im Nu auf Kriegsgebell umzustellen.

Karl Kraus, der sein Stück während der Kriegsjahre in Schüben verfasst hatte, trug während vieler Nachkriegsjahre aus der Chronik vor. Trotz gelegentlicher Versuche blieb sie unaufführbar. Kraus blieb der "Nörgler", als der er sich im Stück selbst verewigt hatte. Er war der geschworene Feind der Menschheit, eben weil er sie liebte – sie dabei aber gründlicher durchschaute, als ihr lieb sein konnte. (Ronald Pohl, 20.3.2024)