In seinem 1995 erschienenen Bestseller "Being Digital" stellte der Digitalvordenker Nicholas Negroponte die These auf, dass der Wandel von Atomen zu Bits in einer Post-Informationsgesellschaft unaufhaltsam sei. Bücher, Zeitungen, CDs – vormals physische Produkte, die verpackt und transportiert werden mussten, lösten sich im Multimediazeitalter in Datenpakete auf, die durch Informations-Highways um den Globus rasen.

Orte würden kaum noch eine Rolle spielen, im globalen Dorf sei es egal, ob man in Kansas oder Kärnten arbeite. Negroponte malte sich eine Zukunft aus, in der man per Mausklick über Kontinente reist: "Wenn ich wirklich aus dem elektronischen Fenster meines Wohnzimmers in Boston schauen könnte, im Sommer die Alpen sehen, die Kuhglocken läuten und den (digitalen) Dünger riechen, hätte ich den Eindruck, wahrhaftig in der Schweiz zu sein."

Häuser pflanzen statt bauen: Das ist die Vision des "Fab Tree Hub", ein Projekt von MIT-Studierenden.
Mitchell Joachim, Terreform ONE

Atom werden zu Bits

Als der Autor diese visionären Zeilen schrieb, sprach noch niemand von Homeoffice. Das World Wide Web, in das man sich mit einem 56k-Modem einklinkte, war nicht mehr als ein aufgemotzter Videotext und quälend langsam. Bis ein Bild auf einer Homepage geladen war, vergingen Minuten. Und heute? Streamt man Serien und führt Videotelefonate mit Menschen aus Übersee. Im postpandemischen Zeitalter arbeiten Millionen Menschen von zu Hause aus, manche Angestellte in Remote-Jobs sind ihren Kollegen noch nie in Präsenz begegnet. Wenn ein Unternehmen seine Aktivitäten verlagert, packt es keine Umzugskisten, sondern migriert seine Server. Die Cloud ist zum riesigen Informationslager geworden.

Negroponte schränkte in seinem Buch die Immaterialisierungsthese allerdings ein: Nicht alle Atome würden zu Bits. Kaschmirpullover und Sweat-Shirts müssten weiterhin mit Lieferwagen von A nach B transportiert werden, und auch das Mineralwasser könne nicht über Glasfaserleitungen in Haushalte geliefert werden. Schon klar: Satt machen die Segnungen des Digitalzeitalters (noch) nicht: Die Pizza, die man auf der Couch beim Streaming schaut, muss irgendein Bote an die Haustüre liefern, und auch die Schmerztablette aus der Online-Apotheke muss irgendwo in einer Fabrik produziert werden. Das World Wide Web stößt an physische Grenzen. Durch die Fortschritte der Biotechnologie könnte die Produktion von Nahrungsmitteln oder Pharmazeutika jedoch revolutioniert werden.

Gedrucktes Fleisch ist erst der Anfang

So ist es einem israelischen Start-up gelungen, Fleisch aus dem 3D-Drucker zu produzieren. Das Laborfleisch, das bereits in ersten Restaurants kredenzt wird, wird aus tierischen Stammzellen hergestellt, die im Labor mit Pflanzenlösungen kultiviert und per Bioprinting in die Form eines Polymergerüsts gepresst werden. Keine Schlachtung, keine Viehzucht, keine klimaschädlichen Gase – das Steak wird einfach gedruckt.

Das israelische Start-up Redefine Meat will Steaks im 3D-Drucker produzieren.
REUTERS

Im Silicon Valley gibt es eine ganze Reihe von Start-ups, die auf dem Gebiet der "synthetischen Biologie" mit DNA-"Synthesizern" und anderen Werkzeugen an neuen Impfstoffen, Saatgut sowie pflanzenbasierten Lebensmitteln tüfteln. Für sie ist DNA bloß eine Information, die sich wie der Code am Computer umschreiben lässt. Die kühne Vision: Die Menschheit unter den Voraussetzungen knapper Ressourcen fit für die Zukunft machen.

Fehlt ein Zimmer, pflanzt man es

Ideen gibt es zuhauf: Halbleiter („künstliche Blätter“), die mittels photoelektrochemischer Prozesse CO2 in Kraftstoffe umwandeln. Genmanipulierte Bakterien, die als Dünger oder Impfstoff fungieren. Oder lebende Sensoren („Living Sensors“) wie etwa Mikroorganismen, die technische Sensorsysteme mit biologischen Fähigkeiten erweitern, etwa bei der Detektion von Gefahrenstoffen. In dem wagniskapitalgesättigten Investorenklima im Silicon Valley fallen diese Biotech-Lösungen auf fruchtbaren Boden. Synthetische Biologie, heißt es, könnte die Menschheit so verändern wie der Personal Computer.

In der Architektur wird seit einiger Zeit der Einsatz nachwachsender Baustoffe diskutiert – Pflanzenstrukturen, die sich selbst heilen und regenerieren, könnten das Ende von Plastik und anderer Substanzen einläuten. Bereits 2005 haben MIT-Studenten einen ökologischen Wohnentwurf („Fab Tree Hab“) präsentiert, bei dem Pflanzen sich entlang eines Pressspangerüsts zu einem Baumhaus ranken. Die Vision: Häuser pflanzen statt bauen. Das auf dem Dach gesammelte Regenwasser würde für Bewohner und Pflanzen genutzt, das Abwasser in einem Teich wiederaufbereitet, in dem Bakterien den organischen Abfall zersetzen. Häuser könnten in diesem Ökosystem zu organischen Strukturen zusammenwachsen. Fehlt es an Raum, pflanzt man einfach ein neues Zimmer. Warum unter hohem Energieeinsatz Ziegelsteine brennen, wenn die Natur den Baustoff frei Haus liefert?

Künftig könnten Häuser als Pilze aus dem Boden schießen.
Foto: Frank Sorge via www.imago-

Raumschiffteile per E-Mail

Wie sich organische Materialien zum Bauen nutzen lassen, hat der New Yorker Architekt David Benjamin 2014 demonstriert: Er errichtete aus Pilzwurzeln, die er mit Getreidehalmen zu 10.000 Bio-Backsteinen wachsen ließ, einen 15 Meter hohen Turm. Architektur als biologisch abbaubares Produkt.

Auch die Nasa forscht an Bioengineering, um ihre Astronauten auf langen Raumfahrtmissionen mit Nahrungsmitteln versorgen zu können: So könnten lebende Organismen Sonnenlicht, Sauerstoff und Wasser in Instantfood verwandeln. Die Bauanleitung würde in digitaler Form an das Raumschiff geschickt, wo die Crew den genetischen Code in eine Bakterienkultur einschleust, deren synthetisierte Proteinstrukturen als "Tinte" für den 3D-Druck verwendet würden. Auf dieser Basis könnten auch Ersatzteile hergestellt werden, die sich nicht so einfach in den Weltraum schicken lassen.

Impfung aus dem Drucker

Die synthetische Biologie könnte die Wirtschaft fundamental verändern und zu einer Relokalisierung von Wertschöpfungsketten führen. Um ein neues Vakzin oder Waschmittel zu produzieren, müssen Vorprodukte nicht mehr mit Flugzeugen und Containerschiffen um den halben Globus transportiert werden. Man lädt sich einfach eine Anleitung im Internet herunter und gibt sie in den 3D-Druck. "Atome sind lokal", sagt der US-Wissenschafter Elliot Hershberg. Die "Biologisierung der Industrie" könnte ganze Wirtschaftszweige wie die Logistik disruptieren. Eine dezentral organisierte Wirtschaft, die auf globaler Ebene Bits austauscht und auf lokaler Ebene Atome zusammenbaut, wäre auch weniger anfällig für reißende Lieferketten und robuster gegenüber Pandemien. Ein Modell für die Zukunft?

Noch steckt in der Biotech-Branche viel Wunschdenken, auch weil das Bioengineering eine Reihe ethischer Bedenken hervorruft. Wenn es um Gentechnik geht, provoziert dies regelmäßig Widerstand. Aber der Klimawandel schreitet unaufhaltsam voran – und fordert unkonventionelle Lösungen. Vielleicht gelingt es irgendwann, Molkereiprodukte im 3D-Druck-Verfahren herzustellen und mehr als die zweidimensionale Alpenlandschaft aus Bildschirmen in Wohnstuben zu transportieren. Ob synthetische Biologie allerdings das Reisen überflüssig machen wird, darf bezweifelt werden. Denn Menschen sind mehr als die Summe ihrer Atome – und wollen bewegt werden. (Adrian Lobe, 21.3.2024)