Dieses Bild soll angeblich den erfolgreichen Flug eines 9M7030 Burewestnik zeigen.
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Die Idee ist gar nicht einmal so weit hergeholt: Ein Marschflugkörper, der tage-, wenn nicht sogar wochenlang in der Luft bleiben kann und den Feind aus einer völlig unerwarteten Richtung angreift, war der Traum im Kalten Krieg Ende der 50er-Jahre. Eine solche Waffe wäre beinahe unmöglich abzuwehren, noch dazu, wenn sie mit Geschwindigkeiten von Mach 3 das feindliche Radar unterfliegen kann. Doch ein solches Kriegsgerät würde enorme Energiemengen verbrauchen. In der damaligen Denke kein Problem: Ein nuklearer Antrieb würde die Rakete mit reichlich Energie versorgen. Kein Wunder, dass die USA sowie die Sowjetunion beinahe gleichzeitig an einer solchen Idee arbeiteten.

Genauso schnell wie die Vision von der Rakete mit dem Nukleartriebwerk entwickelt wurde, so schnell wurde sie auf beiden Seiten auch wieder verworfen. Allein die Gefahr, die bei Start und Landung einer solchen Waffe für das eigene Territorium bestand, war nicht zu rechtfertigen oder, wie die Putin-kritische "Nowaja gaseta" lakonisch anmerkt: "Wenn man das Arbeitsmaterial – also Luft – durch den Reaktorkern leitet, dann ist klar, dass die Luft, die aus der Düse fliegt, eine große Menge an radioaktiven Elementen enthält." Natürlich wäre es technisch möglich gewesen, den Reaktorkern vom Trägermedium zu isolieren, aber das Risiko war zu groß.

Zu gefährlich für den Einsatz

Auch in den USA stellte man das Programm namens Pluto wieder ein, aus ähnlichen Gründen. Die Kosten waren explodiert, und dann war da noch die Kontaminationsgefahr. Noch dazu hatten sowjetische wie amerikanische Konzepte einen gravierenden Nachteil: Eine Landung des atomar betriebenen Marschflugkörpers war nicht im Konzept vorgesehen. Der Atomreaktor wäre also früher oder später irgendwo auf der Erde eingeschlagen, im schlimmsten Fall im eigenen Land. Deshalb nennt die "Nowaja gaseta" dieses Waffensystem auch "geplantes Tschernobyl". Das Konzept wanderte wegen zu hoher Risiken zu den Akten, und seitdem ist niemand mehr auf die Idee gekommen, eine solch gefährliche Waffe zu entwickeln.

Auftritt Wladimir Wladimirowitsch Putin. Im Oktober 2023 verkündete der russische Herrscher Erstaunliches: Der letzte Test des neuen Marschflugkörpers Burewestnik sei abgeschlossen, sagte er voller Stolz. Doch was ist Burewestnik? Richtig, ein Marschflugkörper mit atomarem Antrieb oder, um in der Sprache der "Nowaja gaseta" zu bleiben: ein fliegendes Tschernobyl.

Westliche Geheimdienste hatten einen neuen Test des Burewestnik (Sturmvogel) bereits erwartet, schließlich wurde die russische Doppelinsel Nowaja Semlja für den Flugverkehr gesperrt. Nur hatte niemand damit gerechnet, dass dieser Test erfolgreich verlaufen würde. Denn die angebliche Superwaffe Putins wurde von der Nato bereits "Skyfall" getauft. Die Anlehnung an den James-Bond-Film ist nur die halbe Wahrheit, der Name dürfte auch daher kommen, weil der Burewestnik auch immer wieder ungeplant vom Himmel fiel – wenn er denn überhaupt abhob. Alle der 13 im Westen bekannten Flugversuche seit dem Jahr 2017 sind laut "New York Times" schiefgegangen. Meist wollte der Reaktor nicht starten, und die Superrakete blieb gleich am Boden oder plumpste aus geringer Höhe auf die Erde. Der vielversprechendste Versuch war jener, als die Waffe nach zwei Minuten in der Luft ins Meer fiel und dort nicht für einen atomaren Zwischenfall sorgte.

Auf dem Papier furchteinflößend

Auf dem Papier klingt der SSC-X-9 Skyfall, so der volle Nato-Name, furchteinflößend: Die zwölf Meter lange Rakete soll mindestens 25.000 Kilometer Reichweite haben. Sie wird mit einem Raketenbooster in die Luft getragen, wo sich der Reaktor aktiviert. Dort bleibt der Sturmvogel dann, bis das Kommando zum Angriff gegeben wird. Da der Burewestnik die Erde mehrfach umrunden können soll, wird der Gegner aus einer von ihm nicht antizipierten Richtung getroffen. Zur Klarstellung: Diese Umrundung muss nicht zwingend über dem Äquator erfolgen und über die tatsächliche Reichweite der Waffe kursieren unterschiedlich Angaben aus Russland, die von "mindestens 25.000 Kilometer" bis hin zu "unendlich" reichen.

Außerdem soll die Waffe so schnell sein, dass sie nicht abzufangen ist, und unter dem Radar des Gegners fliegen – so stellt es zumindest die russische Propaganda dar. Wobei auch schon die Ch-47M2-Kinschal-Hyperschallrakete als unverwundbar dargestellt wurde, bis sie von ukrainischen Streitkräften erfolgreich abgefangen wurde. Auch der T-14-Armata-Superpanzer war angeblich schon in der Ukraine einsatzbereit, bis das Projekt gestoppt und Russlands Propagandapanzer entlarvt wurde.

Aber zurück zum Sturmvogel, dieser erwies sich nämlich mittlerweile als reale Gefahr – zumindest für seine Erschaffer. Am Morgen des 8. August 2019 explodierte etwas auf dem Übungsplatz Njonoksa in der Nähe von Archangelsk. Nach dieser Explosion wurde in Sewerodwinsk ein kurzzeitiger Anstieg der Strahlung registriert; der Teil der Dvina-Bucht, in dessen Nähe sich die Explosion ereignete, wurde gesperrt. Die russische Atomenergiebehörde Rosatom meldete den Tod zweier Menschen bei einer "Motorexplosion".

Schon jetzt tödlich

Später war von fünf Toten und zwei Schwerverletzten die Rede, und es hieß, eine Antischiffsrakete vom Typ Zirkon sei explodiert. Das Problem: Eine Zirkon setzt keine Strahlung frei. Später kam eine neue Meldung: Die Strahlung sei von einer nuklearen Batterie ausgetreten, hieß es. Dummerweise registrierte die staatliche russische Umweltbehörde die Isotope Strontium-91, Barium-139 und -140 und Lanthan-140, die von einer Radionuklidbatterie nicht freigesetzt werden können. Tatsächlich dürfte es bei Arbeiten am Reaktor eines Burewestnik zu einem Unfall gekommen sein.

Zweifel an Einsatzfähigkeit

Hat die Burewestnik also tatsächlich einen erfolgreichen Flug absolviert? Wie immer sind russische Angaben mit extremer Vorsicht zu genießen. Auch die samt und sonders gescheiterten Tests aus dem Jahr 2017 wurden damals als Erfolg verkauft. Wie die Zeitung "Wedomosti" berichtet, wurde bei einem dieser "erfolgreichen" Tests "die Kernanlage an Bord durch ein elektrisches Modell dargestellt".

Eines ist klar: Die 9M7030 Burewestnik ist eine Propagandawaffe Russlands, genauso wie die Gleitbombe Avangard, die Hyperschallrakete Kinschal, der Nukleartorpedo Poseidon, die Antischiffsrakete Zirkon und die Interkontinentalrakete Sarmat. Eingesetzt wurde von diesen Superwaffen bislang nur die Kinschal – mit für die Russen enttäuschenden Ergebnissen. (Peter Zellinger, 25.3.2024)