Fokus auf die ­Ränder und das ­vermeintlich ­Unscheinbare: der Schriftsteller Karl-Markus Gauß.
Marco Riebler

Vor mehr als 20 Jahren hat Karl-Markus Gauß begonnen, ein Europa zu bereisen, das es eigentlich nicht mehr gibt, nur noch an den Rändern und in abgelegenen Winkeln fand er Reste jener Multikulturalität, die einmal das Leben in Mittel- und Osteuropa bestimmt hat. Als Besucher teilweise vergessener, ins Abseits geratener Orte erlebt man ihn auch in seinem neuen Buch Schiff aus Stein, das im Vorfeld seines 70. Geburtstags erscheint. Darin ist der Autor viel auf dem Balkan, im ehemaligen Jugoslawien unterwegs, das ist nicht zuletzt auch der eigenen Familiengeschichte geschuldet: Dort hatten sich einst seine donauschwäbischen Vorfahren niedergelassen, und dort begegnet er nun den fiktiven Nachbarn von heute, tritt mit ihnen in Kontakt oder beobachtet Straßenszenen, in denen einfache Menschen die Kunst des Alltags zelebrieren. Und er beobachtet dabei sich selbst.

Mit "Orte und Träume" sind die über 50 Texte im Untertitel bezeichnet, sie sind keine beliebige Sammlung, sondern reihen sich wie in einer Suite aneinander und bilden eine nach Form und Inhalt zusammengefügte Komposition, in der sich jeder Gedanke, jedes Bild in einem verwandten fortzusetzen scheint. So ist jedes Einzelbild Teil eines großen Gemäldes, in dem es, bekundet Gauß im Gespräch, nicht um "ethnografische Vollständigkeit" gehe, sondern um den "Eindruck" des Augenblicklichen, das Menschliche, das in einem bestimmten Moment zum Ausdruck kommt und zu dessen Beobachter und Deuter der Schriftsteller wird. Gauß nennt es "epiphanische Momente", in denen "einem für kurz die Einheit des zerfallenden Lebens aufleuchtet, der Zusammenhang des Ganzen". Als könnte man dahinter so etwas wie den Sinn des Lebens herausfinden.

Das kann beim Durchblättern ­alter Fotoalben geschehen, wenn einem fremde und dennoch vertraut wirkende Lebensgeschichten entgegenkommen. Oder im Entdecken kleiner Auffälligkeiten, etwa im Straßenbild eines Städtchens oder in der zufälligen Handlungsweise eines seiner Bewohner. Manchmal ist es oft nur die Erfahrung des scheinbar Gewöhnlichen, aber sie ist durchdrungen von der "Poetik des Besonderen", die das Vergängliche mehr als nur den gefühlten Augenblick lang vor einem bleiben lässt.

Fremdes Europa

Immer schon hat Gauß den kleinen Dingen seine Aufmerksamkeit geschenkt. Eine unscheinbare Geste oder ein einziges Wort, mit dem etwa der Bahnhofsvorsteher in Ljubljana angesichts eines verspäteten Fernzuges das "Unermessliche" des Seins zu erklären versucht, in dem sich eine untergegangene Welt durch Zeit und Raum immer noch zu behaupten weiß. "Zug aus Lodomerien" nennt Gauß den Text und lässt in dem Namen eine historische Landschaft der Habsburgermonarchie aufleuchten, die heute großteils in der Ukraine liegt, aber der Name, stellvertretend für alle verschwundenen Landschaften, bekundet: Alles im später zerfallenen Europa gehörte einmal zusammen, und unsichtbare Fäden laufen noch immer durch das einstige Ganze. Genau das versuchte der Bahnhofsvorsteher mit einer "weltumspannenden Gebärde" verständlich zu machen, indem er mit einem "Alles" erklärte, warum der Zug aus Belgrad Verspätung hatte.

Das Vergangene liegt bei Gauß immer auf der Reiseroute. Ohne die Erfahrung fremder Orte und ihrer Geschichte wäre sein Werk nicht denkbar, zumindest es wäre unvollständig. Hier im "fremden" Europa findet er den Stoff für seine kleinen und großen Texte.

Bis heute steht Reisen und Schreiben bei Karl-Markus Gauß in einem bestimmten Verhältnis. Ein Drittel des Jahres ist er unterwegs, geschrieben wird dann zu Hause. Recherche, Reiseerlebnis und Imagination sind die Grundfesten dieses Schreibens. Der Fokus gilt jeweils den Rändern. Auf Seite 34 bekennt Gauß, "dass es keinen Ort gibt, der es nicht wert wäre, durchwandert und erkundet zu werden, weil ein jeder sein Geheimnis und seine Geschichte hat".

Und es ist das Flüchtige, kaum Wahrgenommene, das in seiner Literatur die eindrücklichsten Bilder erzeugt. Augenblicke, die an verschiedenen Orten aufgesammelt wurden: in Gorizia, Chişinău, Troyes, Salzburg, Šibenik, Vilnius, Ljubljana, Ybbs an der Donau oder Novi Sad. Oft aber nur kleine, abgelegene Ortschaften wie etwa Vodnjan in Istrien, wo sich die Lebenden und die Toten begegnen, wenn Heilung suchende Kranke venezianische Mumien in einer Kirche aufsuchen. Oder das Küstenstädtchen Senj, in dem für den Autor ein Jugendroman wieder lebendig wird, den er einst so heiß geliebt hatte, dass er ihn aus der Stadtbücherei immer wieder entlieh: Die rote Zora und ihre Bande. Die in dem Roman herumstreunenden Kinder erkennt Gauß, als er fünfzig Jahre später nach Senj kommt, in einem einfachen Lokal wieder, vier alte Männer und eine Frau mit struppig-grauem Haar: "(...) sie alle hatten nur das Alter und Zora zudem mit mir die Haarfarbe gewechselt." Ja, mag man sich denken, so geht es einem, wenn man ein halbes Leben später eine Wirklichkeit betritt, die man schon kennt – die Literatur wird zum Leben und das Leben wieder zur Literatur.

Karl-Markus Gauß, „Schiff aus Stein. Orte und Träume“. € 23,70 / 144 Seiten. Zsolnay-Verlag, Wien 2024
Zsolnay

Augenblick der Verwandlung

Gauß versteht es wie kein anderer, den Augenblick als Verwandlung in seiner ganzen Langsamkeit abzubilden, und obwohl in vielen, ja den meisten dieser Bilder "nichts Komisches oder gar Verdächtiges" auszumachen ist, trägt jede der Miniaturen eine Erzählung in sich, in der verkleinert die Welt zum Ausdruck kommt, ein Mikrokosmos, der mit den Mikrokosmen der anderen Texte (aber auch der bisherigen Bücher) durch einen unsichtbaren poetischen Faden verbunden ist. Jeder dieser Augenblicke ist eine "Welt-Erfahrung", auch wenn der Schreibende nie alles von ihr verstehen könne. Schließlich bleibe ja auch das Rätsel, das man selber ist. "Ich muss nicht alles von mir wissen", sagt Gauß.

Einmal verweist er auf Schnitzler, der in seinen Tagebüchern alle Träume penibel notierte und zu deuten versuchte – manchmal träumte er sein eigenes Begräbnis. Gauß selbst sieht man im Traum auf einem Friedhof irgendwo in Südeuropa wandeln, plötzlich steht er vor einem Grabstein, dem sein Name eingeschrieben ist. In einem anderen Text wird die Erinnerung an die letzte Zigarette seines Vaters, einen Tag vor dessen Tod, wieder lebendig. Oder an ein Gespräch in der Jüdischen Gemeinde von Sarajevo mit einem alten Oberst der jugoslawischen Befreiungsarmee, der desillusioniert von den Entwicklungen der Zeit und dem eigenen Leben spricht: "My future goes cemetary" – der Satz korrespondiert heimlich mit dem Traum vom eigenen Grab.

Dass dieses Buch in der Rekonvaleszenzphase nach einem Herzinfarkt entstanden ist, muss der Leser nicht wissen, aber es erklärt vielleicht den ebenso nachdenklichen wie gelassenen Ton, in dem stille Melancholie und Freude am Leben ihre Behauptung haben. Vor einigen Jahren hat Gauß gemeint, er würde sich für den letzten Augenblick wünschen, dass alles Erlebte, Erlernte, Erfahrene, alle Begegnungen mit Orten und Menschen sich zu einem großen Bild zusammenfügten.

Urformen des Erzählens

Zugegeben, eine barocke Vorstellung, hinter der aber letztlich die "Urformen des Erzählens" wirken, die schließlich dazu gemacht sind, "das Schicksal des Menschen zu fassen". Diese Kraft begegnet dem Autor in einem Gedicht der polnischen Lyrikerin Wisława Szymborska ebenso wie in der Entdeckung der Vergänglichkeit auf dem steingewordenen Friedhof La Certosa in Bologna, mit der es gelingt, das Endgültige umzukehren: "(...) denn was vergänglich ist, das lebt ja, mehr noch, nur was vergeht, hat auch Leben." Das klingt beruhigend, erst recht, wenn Gauß Friedhöfe mit Romanen vergleicht: Beide erzählen vom Leben.

Ein kleiner, nicht einmal eine Seite füllender Text gilt dem "Mann am Bahnhof", einem ungefähr Sechzigjährigen in einem schwarzen Regenmantel, an dem alle vorbeigehen – einzig vom Blick des Schriftstellers wird er registriert: als jemand, der in "felsenartiger Einsamkeit" mitten in der Bahnhofshalle steht. Als er sich dann doch zu bewegen beginnt, sind es winzige, schwerfällige Schritte, um nach wenigen Metern wieder zu erstarren: "(...) keuchend hielt er Ausschau, wo auf seiner langen Reise er die nächste Rast einlegen könnte."

Ohne das Bild vom Leben als Reise zu bemühen, beschreibt der Text ein nicht nur gebotenes Innehalten im hektischen Treiben einer Bahnhofshalle, das man vielleicht einmal auch an sich selbst gezwungenermaßen erleben wird.

Das hat dann fast schon die Fatalität eines unsichtbaren Selbstbildnisses als alter Mann, wenn darin nicht ein Hauch von Zuversicht läge. Denn immer, wo das Ich sich selbst beobachtet, tut es das mit fröhlicher Gelassenheit, und hin und wieder, wenn sich "schwarze, kalte, stille Unendlichkeit" auftun würde, erkennt der Beobachter im Spiegel das Kind, das er einmal war, und wird von der Erinnerung gerettet: "So schlief ich ein, als Kind, das mir Altem beistand."

Die Welt im Roman

Im Blick zurück wird jene Welt wieder lebendig, die sich schon der Jüngling erlas und der Erwachsene sich später erschrieb. Dass er Schriftsteller wurde, schreibt Gauß, habe mit der Entdeckung von Tolstois Anna Karenina zu tun – damals war er 16, spielte in einer Band auf der E-Gitarre und wollte per Autostopp durch Europa. Aber die eigentliche Welt fand er im Roman, und sie gründet auf der Erkenntnis, dass man sich in der Kunst nicht nur "mit dem Ähnlichen identifizieren" könne, "sondern auch mit dem ganz und gar Fremden, Anderen". Und dass einem diese Verbindung etwas vom "Geheimnis der Welt" zu verraten scheint. (Gerhard Zeillinger, 23.03.2024)