Hat im Jänner seinen Plan für Österreich präsentiert: Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP).
IMAGO/Andreas Stroh

Eines muss man Kanzler Karl Nehammer lassen, er hat einen Plan. Anfang dieses Jahres hat der ÖVP-Politiker in seiner Österreich-Rede die Marschrichtung vorgegeben. Eines seiner Ziele ist dabei, Leistungsgedanken im Land wieder zu stärken. Dazu gehört, künftig bei Sozialleistungsempfängern genauer hinzusehen. Konkret will der Kanzler einmal die angebliche Einwanderung ins Sozialsystem stoppen. Die Zugangsregeln zur Sozialhilfe sollen strenger werden. Es geht aber auch um striktere Regeln für Arbeitslose: Das Arbeitslosengeld soll künftig degressiv sein, also stärker absinken, und zwar unter das aktuelle Niveau. Das Motto im Österreich-Plan von Nehammer: Ja zu einem temporären sozialen Auffangnetz, "aber keine soziale Hängematte".

Einzelne Aspekte seiner Ideen werden konkret diskutiert: So tobt eine Debatte darüber, die Zugangsregeln zur Bildungskarenz zu verschärfen. Die Kosten für Bildungskarenz werden aus den Beiträgen der Arbeitslosenversicherung bezahlt. Das Wirtschaftsministerium will noch vor den Wahlen einen Vorschlag präsentieren, um den Zugang zum Weiterbildungsgeld restriktiver zu gestalten.

Nehammers Motto: Ja zu einem temporären sozialen Auffangnetz, "aber keine soziale Hängematte".
Fatih Aydogdu

Die Stoßrichtung dieser Ideen ist klar. Weniger soziale Hängematte soll Spielräume für Entlastungen bei den Lohnnebenkosten schaffen. Die Gewerkschaft und die SPÖ machen mobil dagegen. Ein Wahlkampfthema ist also jedenfalls gesetzt. Das passt gut, weil sich die öffentliche Debatte, wenn es um den Sozialstaat geht, meist um Arbeitslose und die Sozialhilfe dreht.

Österreich vorn bei Sozialausgaben

Und ist diese Diskussion nicht inhaltlich wichtig? Österreichs Sozialausgaben sind die zweithöchsten in der EU, nur in Frankreich wird noch mehr für soziale Absicherung ausgegeben. Diese Werte beziehen sich noch auf die Pandemiezeit. Damals hat Österreich bekanntermaßen keine Kosten gescheut, die heimischen Aufwendungen für Sozialpolitik sind stärker gestiegen als in anderen Ländern. Aber selbst wenn man die Pandemie ausklammert, liegt Österreich mit seinem Sozialbudget seit Jahren kontinuierlich über dem EU-Schnitt. Die heimischen Sozialausgaben entsprechen 30 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das sind um die 140 Milliarden Euro.

Allerdings fließt das meiste Geld nicht in jene Bereiche, über die meist gestritten wird. Die Kosten für Arbeitslosengeld und Mindestsicherung sind im Vergleich zu den wirklich großen Posten nur Peanuts. Wenn der österreichische Staat umverteilt, tut er das im Regelfall nicht über diese Geldleistungen.

Der mit Abstand größte Teil des sozialen Transfers entfällt nicht auf Jobsuchende und Sozialhilfeempfänger, sondern Ältere. 44 Prozent der Sozialkosten machen Pensionen und Pflege aus. Auf Platz zwei kommen Ausgaben für Gesundheit. Von 100 Euro, die für den Sozialstaat aufgewendet werden, entfallen 72 auf Gesundheit, Pflege und Pensionen. Zum Vergleich: Nur elf Euro machen Ausgaben für Arbeitslose und Sozialhilfe aus. Um es in Anspielung an den Österreich-Plan zu formulieren: Von den Kosten her liegen in der sozialen Hängematte weniger Jobsuchende, dafür viele Pensionistinnen und Pensionisten.

Der Ökonom Bernhard Binder-Hammer vom Institut für Demografie an der Akademie der Wissenschaften hat ausgewertet, welcher Anteil staatlicher Geldleistungen auf welche Altersgruppen entfällt. Das Ergebnis: 70 Prozent bekommt die Gruppe 60 Jahre plus.

Nun lässt sich einwenden, dass Pensionen eine Versicherungsleistung sind, dass die Bezieher also selbst einmal Beiträge eingezahlt haben ins System. So finanzieren nun die Jüngeren aktuell die Älteren. Diese Rechnung geht allerdings nicht auf: Allein heuer wird der Staat 16 Milliarden Euro aus dem Steuertopf für Alterspensionen zuschießen.

Wie sich staatliche Sozialausgaben in Österreich aufteilen.
Der Standard

Nun macht es wenig Sinn, den Sozialstaat allein über die Kostenseite zu betrachten. Eine andere Möglichkeit ist zu analysieren, wie er wirkt. Das Forschungsinstitut Wifo hat vor kurzem eine umfassende Analyse dazu präsentiert. Dabei zeigt sich zunächst, dass der Staat in Österreich tatsächlich umverteilt.

Das ärmste Zehntel der Bevölkerung verdient beispielsweise pro Kopf um die 430 Euro monatlich durch Erwerbsarbeit. Berücksichtigt man Umverteilung, steigt die verfügbare Summe auf 1830 Euro. 1400 Euro kommen also durch staatliche Transfers dazu.

Wie genau wird umverteilt? Das lässt sich konkret festmachen. Von 100 Euro, die von Haushalten mit hohen Erwerbseinkommen zu jenen ohne hohe Marktbezüge wandern, stammen 38 Euro aus Pensionszahlungen. Das ist wenig überraschend: Wer Pension bezieht, arbeitet im Regelfall nicht, erhält also kein Erwerbseinkommen. Erst die Pension bessert die Kassa des Haushalts auf. Der zweite große Brocken der Umverteilung erfolgt über Sachleistungen. Wenn der Staat 100 Euro umverteilt, tut er das mit 33 Euro über Sachleistungen. Das bedarf einer Erklärung.

Der Staat stellt Leistungen wie Schulen, Spitäler, Kindergärten und Wohnraum zur Verfügung. Viele Menschen, oft jene, die kein Einkommen aus Erwerbsarbeit haben, etwa Kinder, nutzen diese Angebote. Die Ökonomen vom Wifo versuchen in einem komplexen Verfahren zu eruieren, welcher Geldwert einem Haushalt zugute kommt, wenn ein Kind gratis die Schule besuchen kann oder eine Familie günstigen Wohnraum von einer Gemeinde erhält. Dabei zeigt sich, dass Umverteilung über Sachleistungen in Österreich der zweite große Brocken hinter Pensionen ist. Und Umverteilung aus Arbeitslosengeld? Ist betragsmäßig überschaubar: Von den erwähnten 1400 Euro, die zu Ärmeren umverteilt werden, kommen im Schnitt 70 Euro via Arbeitslosengeld und 28 Euro aus Sozialhilfe.

Warum so wenig? Viele Menschen sind von Arbeitslosigkeit betroffen, die meisten aber nur kurz. Bei der Mindestsicherung profitieren nur wenige Haushalte. Dagegen gibt es zwei Millionen Haushalte mit Pensionsbezug. "Monetäre Leistungen sind wichtig. Aber zentraler für das sozialstaatliche Gefüge sind Sachleistungen für Bildung, Gesundheit, Familien und Wohnen", sagt die Ökonomin Christine Mayrhuber vom Wifo. Umverteilung in Österreich funktioniere vertikal, von arbeitenden Menschen mittleren Alters zu Jungen und Alten. Zugleich horizontal, von Kinderlosen zu jenen mit Kindern. Interessant ist, dass tatsächlich Bedürftigkeit nur bei einem Bruchteil der Sozialleistungen eine Rolle spielt: Bei weniger als zehn Prozent der Auszahlungen wird darauf abgestellt.

Der Sozialstaat besteht also vor allem aus Ausgaben für Pensionen, aus Leistungen für Bildung und Gesundheit. Warum wird dann so viel über Nischenthemen wie Mindestsicherung gesprochen?

Debatte über Nischenthemen?

Dazu gibt es mehrere Erklärungen. Eine Antwort lautet, dass die Macht der Lobbygruppen die Politik beeinflusst. Ältere Menschen sind bedeutende Wählergruppen, weshalb politisch mit Ansagen, Pensionen kürzen zu wollen, wenig zu holen ist. Auch das Dogma "Leistung muss sich lohnen" lässt sich an Jobsuchenden leichter vorexerzieren. Auch Ressentiments gegen die Gruppe, Stichwort soziale Hängematte, können da eher befeuert werden. Schließlich sind Reformen beim Arbeitslosengeld einfacher als im Bildungssystem, wo es viele Zuständigkeiten gibt.

Die Debatte müsse rekalibriert werden, sagt Ökonomin Mayrhuber: "Ich verstehe nicht, warum wir in Österreich so viel Zeit für Debatten über Arbeitslosengeld und Sozialhilfe aufwenden und der Fokus nicht stärker auf Bildungsfragen liegt." Letzteres sei nicht nur aus sozialstaatlicher Perspektive wichtiger: "Dass Kinder gut ausgebildet werden, ist ökonomisch entscheidend", sagt Mayrhuber. Die richtigen Fragen in der sozialpolitischen Debatte wären demnach eher, ob es genug Geld fürs Bildungssystem gibt und es effizient eingesetzt wird. Das wird immer wieder diskutiert, selten unter Verteilungsgesichtspunkten.

Forscher Bernhard Binder-Hammer sagt, wir müssten über die Kosten der Alterung reden: "Eine der größten Herausforderungen ist, dass wir immer mehr in Richtung älterer Generationen umverteilen und die Belastung für Jüngere steigt." Das gelte es zu durchbrechen. Eine Möglichkeit: länger arbeiten.

Nun gibt es in der politischen Arena Vorschläge, die mehr zu Jüngeren umverteilen würden. Im Österreich-Plan des Kanzlers wird ein Bonus für Vollzeitarbeitskräfte gefordert, es soll Steuersenkungen für Beschäftigte geben, Goodies für Häuselbauer. Was fehlt, sind Ideen, wie diese Wohltaten zu finanzieren wären. Durch Kürzungen bei Arbeitslosengeld und Sozialhilfe wird das nicht gelingen. Das große Geld fließt anderswo. (Andras Szigètvari, 24.3.2024)