Ein Auge, offenbar während des Verhörs ausgestochen; ein Ohr, teils abgeschnitten, und, wie ein Video darlegt, dem am Boden liegenden Verdächtigen in den Mund gestopft; Genitalien, mit Stromstößen verbrannt; Gesichter, von Schlägen entstellt: Selbst abgebrühten Beobachterinnen und Beobachtern dürfte zu Beginn der Woche angesichts der Bilder und Berichte über die Folterungen der Moskauer Terrorverdächtigen der Atem gestockt haben.

Die vier als Verdächtige präsentierten Tadschiken weisen Spuren schwerer Folter auf.
EPA/SERGEI ILNITSKY

Vier Männer, sie sollen Tadschiken sein, wurden am Sonntag, zwei Tage nach dem Terroranschlag auf einen Moskauer Konzertsaal mit mindestens 137 Toten, im berüchtigten Basmanny-Gericht dem schockierten Volk zur Schau gestellt. Nach Lesart der vom Kreml kontrollierten Justiz sollen sie für den Massenmord verantwortlich sein. Ihre angeblichen Geständnisse – offenkundig das Resultat schwerer Folter. Ob sie der Wahrheit entsprechen oder nicht, ist in Wladimir Putins Reich mittlerweile aber ohnehin nebensächlich.

Kein Whistleblower nötig

Russlands – nach der Revolte der Wagner-Söldner im vergangenen Sommer – nun schon zum zweiten Mal binnen eines Jahres düpierter Machthaber demonstriert stattdessen martialische Härte. Mühe, die Polizeigewalt zu kaschieren oder gar zu verstecken, gibt sich das Regime längst nicht mehr. Ganz im Gegenteil. War es 2016 nach einem Anschlag auf die Sankt Petersburger U-Bahn noch die NGO Human Rights Watch, welche die brutale Folterung von Verdächtigen aufgedeckt hat, braucht es nach dem Anschlag auf die Crocus City Hall gar keine Aufdecker mehr.

Was genau den vier Tadschiken nach ihrer Festnahme widerfahren ist, erfuhr die Welt nämlich nicht etwa wie anderswo üblich von Menschenrechtlerinnen oder Whistleblowern, sondern – grausam detailliert – auf regimetreuen Telegram-Kanälen. "Grey Zone" etwa, ein Kanal, der den Wagner-Kämpfern zugeordnet wird, kommentierte die Stromfolter hämisch als Hilfsmaßnahme, weil einer der Verdächtigen während des Verhörs "vor Aufregung" das Bewusstsein verloren habe.

Auch das ist eine neue Dimension der Repression, die in Putins Russland Einzug gehalten hat: Auch wenn NGOs seit Jahren über Folter durch Sicherheitskräfte berichten und die Unterstützer Alexej Nawalnys nach dessen Tod die Folterung des Kreml-Kritikers in der Lagerhaft beklagten, hatten es die russischen Behörden bisher meist tunlichst vermieden, die Spuren ihrer Brutalität offen zu zeigen. Schließlich ist Folter auch in Russland verboten. Nun zeigt man sie mit Stolz.

"Kombination aus Umständen"

Für Wolfgang Mueller vom Osteuropa-Institut der Universität Wien haben mehrere Faktoren dazu geführt, dass das Regime seine Folterpraxis heute der ganzen Welt so deutlich vor Augen führt: "Es handelt sich vermutlich um eine Kombination aus Umständen, also dem großen Zeitdruck und dem Ziel des Regimes, Handlungsfähigkeit und Härte zu zeigen. Vielleicht auch um von Sicherheitslücken abzulenken, die den Anschlag ermöglicht haben."

Russlands Machthaber Wladimir Putin demonstriert nun Härte.
AFP/POOL/VALERY SHARIFULIN

Gerade weil der sonst allmächtige Geheimdienst FSB, bei dessen sowjetischem Vorgänger KGB Putin einst Karriere gemacht hat, die Warnungen aus den USA vor einem islamistischen Anschlag offensichtlich in den Wind geschlagen hat, dürfte die Devise nun lauten: Abschreckung statt Aufklärung. Ein Signal, das nicht nach außen, sondern nach innen ausgesandt wird, wie der Innsbrucker Russland-Experte Gerhard Mangott im Gespräch mit dem STANDARD erklärt: "Bei einer großen Mehrheit der Menschen in Russland werden die Folterungen gut ankommen, weil man noch immer schockiert über das Ausmaß des Anschlages ist."

Darauf baut auch der Kreml. Dessen Sprecher Dmitri Peskow, sonst kein Mann subtiler Worte, ließ am Montag Fragen nach dem Gesundheitszustand der als Terroristen zur Schau gestellten Männer demonstrativ unbeantwortet. Ex-Präsident Dmitri Medwedew, der seit Beginn des Ukrainekrieges mit extremer, vor allem antiwestlicher Rhetorik auffällt, setzte noch einen drauf: "Wir töten sie alle." Und auch Ministerpräsident Mikhail Mischustin erklärte, Terroristen "verdienen keine Gnade".

Wirkungsvolle Desinformation

Dass der Diskurs in Russland, wo die allermeisten Menschen täglich der Desinformation durch die vom Kreml gesteuerten Massenmedien, vor allem das Fernsehen, ausgesetzt sind, inzwischen vollends verroht ist, beobachtet auch der Wiener Osteuropa-Forscher Mueller. "Das zeigt sich vor allem im Krieg gegen die Ukraine. In einem russischen Staatssender wurde er als 'Entwurmung einer Katze' dargestellt, und die getöteten Menschen wurden damit indirekt als Bandwürmer bezeichnet."

Eine Verrohung, die das Regime nicht nur bewusst steuert, sondern auch noch belohnt: Ähnlich wie die Kommandanten jener Armeeeinheit, die 2022 das Massaker im ukrainischen Butscha nahe Kiew angerichtet haben, wurden auch die Folterknechte der vier mutmaßlichen Terroristen nicht etwa gerügt, sondern erhielten Berichten zufolge stattdessen auch noch Auszeichnungen.

Ob Putins Kalkül, mit überbordender Härte das Versagen seines Sicherheitsapparats zu kompensieren, aufgeht, ist indes unklar. Ob es das überhaupt unbedingt muss, ebenso. Mueller: "Ob die Mehrheit glaubt, was der Kreml sagt oder nicht, ist mittlerweile fast egal, weil sich die Menschen nicht mehr oder nur sehr wenig politisch artikulieren können." (Florian Niederndorfer, 26.3.2024)