Dass Frauen sich auf Video- und Streamingplattformen gern freizügiger zeigen als Männer, um Publikum anzulocken, wird bei Diskussionen zum Erfolg von Contentmachern gerne in den Raum gestellt. "Sex sells" gilt auch als geflügeltes Wort in der Werbebranche. Aber gibt es hier wirklich ein starkes Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern?

Eine neue Untersuchung von zwei Forscherinnen der Universität im spanischen Alcalá, Kristel Anciones-Anguita und Mirian Checa-Romero, legt nun nahe, dass es zumindest auf Twitch einen "Pornofizierungstrend" unter Streamerinnen gibt.

Starker Frauenüberhang bei sexualisierten Auftritten

Die Wissenschafterinnen haben dafür eine Stichprobe von 1.920 Clips der Plattform analysiert. Gewählt wurden dabei die beliebtesten Videos in den meistbesuchten Kategorien im September und Oktober 2022. Sie stammten aus Streams zu verschiedenen Videospielen sowie "Just Chatting", "ASMR" sowie "Pools, Whirlpools und Strände". Mit dieser Auswahl wollte man die Breite der Inhalte auf Twitch abbilden. Nicht einbezogen wurden Clips, in denen der oder die Streamerin nicht zu sehen war oder von einem virtuellen Avatar repräsentiert wurde.

Anschließend analysierten sie die einzelnen Videos hinsichtlich verschiedener Aspekte, beispielsweise Kleidung, sichtbare Körperteile, Fokus der Kamera, Haltung und implizit sexualisierte Verhaltensweisen. Obwohl mehr männliche als weibliche Content-Creator erfasst waren, zeigte sich unter Frauen deutlich mehr und intensivere Selbstsexualisierung. Lediglich zwei der Männer wurden als "hypersexualisiert" eingestuft, von den Frauen hingegen 389. In die Kategorie "sexualisiert" fielen wiederum fünf Männer und 190 Frauen. Es gibt also einen "Pornofizierungstrend" im Kampf um Zuseher.

Screenshot aus einem Twitch-Clip von Amouranth, die im Bikini auf einer Wiese liegt
Kaitlyn Michelle Siragusa, vulgo "Amouranth", hat auf Twitch über sechs Millionen Follower, ist aber mittlerweile auf der Plattform Kick unterwegs. Sie wurde mehrfach von der Plattform gesperrt, unter anderem, weil sie sich zu freizügig gezeigt hatte.
Twitch/Amouranth

Die Wissenschafterinnen zeigen sich gegenüber "PsyPost" "überrascht über die signifikanten Unterschiede im Ausmaß der Sexualisierung von Inhalten je nach Geschlecht". Der identifizierte Trend war aber nicht kategorieübergreifend gleich stark. Streamerinnen, die auf sexualisierte Inhalte setzten, waren etwa unter den Clips zu Videospielen deutlich seltener zu finden, während bei "ASMR" und "Pools, Whirlpools und Strände" generell mehr Frauen vertreten waren und Sexualisierung quantitativ und in der Intensität deutlich häufiger anzutreffen war.

Forscherinnen wollen Diskussion anstoßen

Das Ergebnis wirft Fragen hinsichtlich des Drucks und der Incentives auf, die Selbstsexualisierung auf solchen Plattformen begünstigen. Muster wie diese könnten auch Auswirkungen auf die Sichtweise des Publikums zu Geschlecht und Sexualität haben. "Die Überschneidung von Selbstobjektifizierung mit Problemen wie sexueller Ausbeutung und Menschenhandel zeigt eine dringende Notwendigkeit für diese Plattform und die Politik, Lösungen für diese komplexen Herausforderungen zu finden", so Anciones-Anguita. Dies sei wichtig, weil trotz des Verweises auf das Konzept der sexuellen Freiheit Selbstsexualisierung oft eine Reaktion auf patriarchalische Vorstellungen sei.

Die Studie hat allerdings auch ihre Grenzen, was die Aussagekraft betrifft, beispielsweise die Beschränkung auf bestimmte Kategorien auf Twitch und besonders populäre Clips. Folgeuntersuchungen könnten hier in die Breite gehen und mehr Kategorien, einen längeren Zeitraum und auch weniger beliebte Streamerinnen und Streamer ins Auge fassen. Die Forscherinnen wollen langfristig mehr Erkenntnisse darüber gewinnen, wie sexualisierte Onlinekultur sich auf jugendliche Männer und Frauen auswirkt und wie man inklusivere Online-Communitys bilden könne. Man hoffe, mit der eigenen Arbeit eine Diskussion und weitere Forschungsarbeit zum Thema anzustoßen.

Das Paper zu ihrer Untersuchung haben die Forscherinnen im Journal "Nature Humanities and Social Sciences Communications" veröffentlicht. (gpi, 27.3.2024)