Rebecca F. Kuang wurde 1996 in China geboren und wuchs in den Vereinigten Staaten auf. Ihr neuer Roman
Rebecca F. Kuang wurde 1996 in China geboren und wuchs in den Vereinigten Staaten auf. Ihr neuer Roman "Yellowface" erschien im Februar.
Julian Baumann

Schreiben ist alles, was sie kann, liebt und je tun wollte. Von ihrer verständnislosen Mutter regelmäßig zu einem lukrativeren Beruf als Buchhalterin oder Juristin gedrängt, bleibt Juniper "June" Hayward ihrem Wunsch nach einer Karriere als Schriftstellerin treu. Doch ihr Debütroman rund um zwei Schwestern aus schwierigen Familienverhältnissen floppte.

Bei ihrem nächsten Werk soll alles anders werden: neues Thema, neuer Stil, neue Stimme. Mit Die letzte Front erreicht June alles, wovon sie je geträumt hat. Sie steigt zum neuen Stern am Autorenhimmel auf, ist wochenlang in der Bestsellerliste vertreten, verteilt Autogramme auf Lesungen, hamstert Preise und einen großen Batzen Geld.

Jedoch basiert ihr neu gewonnener Ruhm auf einer Lüge. Denn das Buch, das sie über chinesische Arbeiter im Ersten Weltkrieg, die an der alliierten Front kämpfen mussten, schreibt, stammt nicht von ihr selbst. Sie stahl es von Athena Liu, einer umjubelten, chinesisch-amerikanischen Bestsellerautorin. Einer Freundin aus Studientagen, für die Juniper Bewunderung, aber auch Neid und Geringschätzung empfindet.

Verhängnisvoller Pancake

Nachdem Athena in ihrem Beisein bei einem Pancake-Wettessen erstickte, kann June nicht anders. Sie steckt das fertige Manuskript ein, an dem Athena bis zuletzt gearbeitet hatte, überarbeitet es und veröffentlicht das fertige Produkt. Es wäre doch schade, die aufwendige Recherche verkommen zu lassen. Und ist es nicht eigentlich egal, wer genau diese Story erzählt?

Mit eindringlicher Sprache wirft die chinesisch-amerikanische Autorin Rebecca F. Kuang (Babel, The Poppy War) in ihrem neuen Roman Yellowface einen Blick auf Junes Leben und sorgt damit nicht selten für ein Engegefühl in der Brust. Man folgt June dabei, wie sie rassistische Passagen aus dem Entwurf streicht oder abmildert: "Athenas Originaltext ist fast unerträglich voreingenommen; die französischen und britischen Soldaten sind übertrieben rassistisch. Ja, sie will die Diskriminierung in den eigenen Reihen der alliierten Streitkräfte hervorheben, aber die Szenen sind abgedroschen und unglaubwürdig." Für den besseren Lesefluss vereinfacht sie die chinesische Kultur, indem sie komplizierte Namen abwandelt oder Hintergrundgeschichte streicht. Und kurzerhand ergänzt June auch noch eine kleine Liebesgeschichte zwischen einer weißen Frau und einem der Arbeiter.

Dabei rechtfertigt sie sich unerträglich vehement für ihr Vorgehen. "Ich habe nie vorgegeben, Chinesin zu sein, oder mir Erfahrungen ausgedacht, die ich selbst nie gemacht habe. Was wir hier tun, ist kein Betrug. Wir stellen nur die richtigen Verbindungen her, damit die Leser:innen mich und meine Geschichte ernst nehmen, damit niemand mein Werk aufgrund von überholten Vorurteilen ablehnt, die vorschreiben, wer worüber schreiben darf."

Netz aus Lügen

Man würde sich am liebsten die Augen zuhalten, so bildlich beschreibt Kuang das verworrene Lügennetz, in dem sich die Protagonistin verheddert und darum bangt, dass ihr Diebstahl auffliegen könnte. Gleichzeitig stattet sie die Protagonistin mit schwindelerregender Selbstgerechtigkeit aus. Über jeden Vorwurf erhaben schlängelt sich June durch die zunehmenden kritischen Stimmen, windet sich durch Gewissensbisse und Wahnvorstellungen, glaubt ihre Lüge irgendwann selbst. Bis sich die Betrugsvorwürfe schließlich zu einem gewaltigen Shitstorm verdichten, den sie nicht mehr ignorieren kann und ihre eigene Diskreditierung live in Social Media verfolgt. Ihr Ruf ist jedenfalls ein für alle Mal zerstört. Bestenfalls Rechtsradikale, die auf Meinungsfreiheit pochen, zählen noch zu ihren Fans.

Noch vor einem eindeutigen Schuldspruch wird sie vom wütenden Internetmob angeprangert, mit Morddrohungen belagert und schließlich gecancelt. Im nächsten Atemzug stürzt sich die Meute auf die verstorbene Athena, kritisiert auch deren Arbeitsweise und zeigt die gnadenlose Härte, mit der Menschen manchmal vorschnell abgekanzelt werden.

Mit der uneinsichtigen Figur June macht Rebecca F. Kuang die Tür der kulturellen Aneignung weit auf. Passenderweise wählt Kuang, die wie Athena ebenfalls chinesische Wurzeln hat, eine weiße Ich-Erzählerin für ihren Roman. Diese betrachtet es nämlich als Zensur, wenn Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe diktiert wird, worüber sie schreiben dürfen. June verfolgt mit der Veröffentlichung von Die letzte Front zwar vorgeblich einen guten Sinn, bereichert sich in Wirklichkeit aber an einer fremden Geschichte und klammert andere Lebensrealitäten aus. War sie mit ihrer Perspektive und mit ihren Erfahrungen wirklich die richtige Erzählerin dafür? (Patricia Kornfeld, 29.3.2024)