Ein dünner Schnitt durch ein menschliches Gehirn. Dort dürfte der Mechanismus gleich ablaufen wie bei den untersuchten Mäusen.
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Langzeiterinnerungen entstehen bei Säugetieren womöglich durch eine kontrollierte Verletzung der DNA von Nervenzellen. Zu dieser verblüffenden Erkenntnis gelangte nun ein Forschungsteam um die Neurowissenschafterin Jelena Radulovic vom Albert Einstein College of Medicine in New York. In einer neuen, im Fachjournal "Nature" erschienenen Studie zeigt das Team an Mäusen, dass ein starker Anstieg elektrischer Aktivität die DNA von einigen Nervenzellen zerstört, die Erinnerungen speichern. Die darauf folgende Reparatur scheint eine bisher unbekannte Rolle beim Erinnern zu spielen.

Lernen durch DNA-Schäden

Dass Beschädigung der DNA von Nervenzellen mit Lernen verknüpft ist, kommt nicht völlig überraschend. Bereits 2021 zeigte eine Gruppe um Li-Huei Tsai vom Massachusetts Institute of Technology im US-amerikanischen Cambridge, dass Doppelstrangbrüche von DNA im Gehirn weitverbreitet sind. Diese kompletten Brüche von DNA-Strängen sind eigentlich gefährlich, weil dadurch Gene neu angeordnet werden können. Die Folge können genetische Krankheiten oder Krebs sein. Doch Tsai konnte zeigen, dass der Mechanismus für Lernvorgänge wichtig ist.

Radulovic und ihr Team wollten mehr darüber wissen. Dazu setzten sie Mäuse leichten Elektroschocks aus, wenn sie in neue Umgebungen kamen. Die Idee war, das Erleben einer neuen Umgebung mit einer merkbaren Stressreaktion zu verknüpfen, die künftig erkennen lassen sollten, ob sich ein Tier an die Umgebung erinnerte.

Bei seinen Untersuchungen stellte das Team genetische Aktivität in einer Hirnregion fest, die von zentraler Bedeutung für Erinnerungen ist, dem Hippocampus. Die Aktivität betraf Gene, die eigentlich eine Entzündungsreaktion auslösen. Diese Gene waren noch vier Tage nach dem Verhaltensexperiment aktiv.

Grund für die Entzündung

Als Grund für die Entzündung entpuppte sich ein körpereigenes Molekül namens TLR9. Die Immunreaktion ähnelt jener, die aktiv wird, wenn der Körper genetisches Material vor eindringenden Krankheitserregern schützen will, diesmal allerdings ausgelöst von einem körpereigenen Botenstoff.

Um die Rolle von TLR9 genauer zu verstehen, verhinderten Radulovic und ihre Gruppe, dass Mäuse es produzierten. Diese Mäuse hatten Probleme mit dem Langzeitgedächtnis, wie sich anhand des Fehlens der Stressreaktion erkennen ließ.

Wie diese neue Entdeckung sich in das bisher bekannte Bild des Formens von Erinnerungen fügt, ist nicht ganz klar. Insbesondere scheint der Mechanismus nichts mit anderen Neuronen des Hippocampus zu tun zu haben, die Engramme genannt werden und als Spuren einzelner Erinnerungen betrachtet werden können.

Parallelen zum Immunsystem

Radulovic spekuliert, Erinnerungen könnten sich durch einen ähnlichen Mechanismus bilden wie Immunzellen, die sich auf fremde Substanzen einstellen, denen sie begegnen. So könnten Informationen über das Ereignis in die DNA der Nervenzellen gelangen. Gegenüber dem Nachrichtenportal von "Nature" sagt sie, die Entdeckung lege nahe, dass "wir unsere DNA als Signalsystem verwenden, um Informationen über lange Zeit bei uns zu behalten".

Auch wenn die genauen Mechanismen noch nicht geklärt sind, bestätigen unabhängige Fachleute, dass es sich um den bisher besten Beleg dafür handelt, dass DNA-Reparaturmechanismen wichtig für das Bilden von Erinnerungen sind. (Reinhard Kleindl, 29.3.2024)