Anhängerinnen und Anhänger der Opposition feierten in der Nacht in der Türkei ihren Sieg.
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Bei den landesweiten Kommunalwahlen in der Türkei am Sonntag haben Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP eine vernichtende Niederlage erlitten. Die Opposition gewann nicht nur mit deutlichem Vorsprung die Metropolen Istanbul und Ankara, auch die nach Größe nächsten zehn Millionenstädte gewann die oppositionelle CHP. Erstmals seit mehr als 40 Jahren wurde die CHP auch landesweit erste Partei. Mit 37,7 Prozent lag sie mehr als zwei Prozentpunkte vor der AKP, die 35,5 Prozent holte.

Dünne Luft für Erdoğan

Für den erfolgsverwöhnten Erdoğan wird die Luft nun dünner. Denn die CHP gewann nicht nur wie bei den Kommunalwahlen vor fünf Jahren die Städte am Mittelmeer und der Ägäisküste, sondern konnte auch in ehemaligen AKP-Hochburgen im Landesinneren punkten. Dazu kommt, dass Erdoğan bei diesen Wahlen, erstmals seit er vor 22 Jahren an die Macht kam, nun wieder eine ernsthafte Konkurrenz im rechten, religiösen Lager erwachsen ist. Die islamische Yeniden Refah Partisi, die vom Sohn des legendären Islamistenführer Necmettin Erbakan gegründet wurde, konnte in der konservativ-religiösen Hochburg Sanliurfa unweit der syrischen Grenze die AKP vom ersten Platz verdrängen und auch in den anderen konservativen Hochburgen Konya und Kayseri der AKP jeweils mehr als 20 Prozent der Stimmen abnehmen.

Die kurdische DEM, vormals HDP, konnte vor allem in ihren Hochburgen im Südosten des Landes punkten, blieb aber ansonsten sehr schwach. In Istanbul kam die DEM nur auf knapp zwei Prozent. Den größten Absturz erlebte die rechtskonservative İyi Parti, die vor fünf Jahren noch in Zusammenarbeit mit der CHP erfolgreich war, jetzt aber überall allein antrat und fast überall haushoch verlor. Die Wähler, die Erdoğan die Rote Karte zeigen wollten, versammelten sich dieses Mal alle hinter der CHP und bescherten dieser ältesten Partei der türkischen Republik so etwas wie eine Wiederauferstehung.

Ekrem İmamoğlu löst nach der Siegesrede seine Krawatte.
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Besonders bedeutsam ist der Sieg der Partei in Istanbul und Ankara. Mit 51,1 Prozent für die CHP gegenüber nur 39,53 Prozent für die AKP konnte der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu einen überzeugenden Sieg einfahren. Anders als vor fünf Jahren, als auf Druck von Erdoğan ein erster knapper Sieg İmamoğlus noch annulliert wurde und Istanbul zweimal wählen musste, war dessen Sieg jetzt zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Selbst frühere Hochburgen der AKP wie der konservative Stadtteil Üsküdar und der zentrale Bezirk Beyoğlu gingen an die CHP. In Üsküdar liegt die Privatresidenz der Familie Erdoğan, in Beyoğlu ist Erdoğan geboren und aufgewachsen. Noch dramatischer war der Wahlsieg der CHP in der Hauptstadt Ankara. Mit 60,35 zu 31,84 Prozent wurde Erdogans AKP von CHP-Bürgermeister Mansur Yavaş geradezu deklassiert.

Persönliche Niederlage

Obwohl Erdoğan formal gar nicht zur Wahl stand, war es dennoch seine Niederlage. In Istanbul hatte er den gesamten Wahlkampf persönlich gestaltet, der eigentliche Herausforderer İmamoğlus, Murat Kurum, war nicht mehr als ein Zählkandidat Erdoğans, der heute auch bereits vergessen ist. Aber auch Landesweit tourte Erdoğan durch alle Städte und Gemeinden, um noch einmal die Macht der AKP zu demonstrieren. Doch wie er selbst in den frühen Morgenstunden des Montags zugab, hat er erstmals seit der Regierungsübernahme vor 22 Jahren seine Ziele nicht mehr erreichen können. Es ist eine historische Niederlage und, wie er selbst zugab, ein Wendepunkt in seiner Regierungszeit.

Recep Tayyip Erdoğan, hier mit Gattin Emine, musste seine Niederlage eingestehen.
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Sein wichtigstes Ziel, dem Land eine neue Verfassung zu geben, in der der Islam wieder zur Staatsreligion erklärt und die säkulare Türkei damit zu Grabe getragen worden wäre, kann er nun wohl vergessen. Auch sein Megaprojekt, neben dem Bosporus noch einen Schifffahrtskanal vom Schwarzen Meer ins Marmarameer graben zu lassen, wird gegen den entschiedenen Widerstand der Istanbuler Stadtregierung und der Mehrheit der Bevölkerung wohl nicht mehr zu realisieren sein.

Müde Bürger

Erdoğans Niederlage ist sicher auch eine Folge der miserablen Wirtschaftssituation. Durch die hohe Dauerinflation verarmt die Bevölkerung in einer dramatischen Weise. Aber das war es nicht nur. Die Mehrheit der türkischen Bürger ist die Dauerherrschaft Erdoğans und seiner AKP müde.

Der Zauber, der von Erdoğan als dem großen charismatischen Führer ausging, ist vorbei. In seiner Rede in der Nacht auf Montag sagte Erdoğan, diese Wahl sei ein Sieg der Demokratie gewesen. Damit hat er tatsächlich recht. Allen totalitären Tendenzen zum Trotz, die Erdoğan nach der Verfassungsänderung 2018, die den Präsidenten praktisch zum Alleinherrscher machte, etabliert hat, hat sich die Opposition bei demokratischen Wahlen durchsetzen können.

Der Opposition gibt das Hoffnung für die Präsidentschaftswahl, die allerdings erst in vier Jahren stattfindet. Nach seinem Sieg in Istanbul ist Ekrem İmamoğlu nun endgültig der starke Mann der Opposition. Mit seinen erst 53 Jahren, gegenüber dem 70-jährigen Erdoğan, gehört ihm die Zukunft. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 1.4.2024)