Der einzige Zweck der Nato sei es, "die Amerikaner drinnen, die Russen draußen zu halten – und die Deutschen am Boden". Dieses Zitat von General Lord Hastings Ismay fehlt nie, wenn das nordatlantische Militärbündnis ein Jubiläum feiert. An diesem Donnerstag wird das wohl wieder so sein, wenn sich die nach dem Beitritt Schwedens bereits 32 Außenminister und -ministerinnen der Mitgliedsstaaten im Hauptquartier in Brüssel treffen. Es ist die größte und stärkste Militärorganisation der Welt, für 950 Millionen Menschen.

Vor genau 75 Jahren, am 4. April 1949, wurde in der US-Hauptstadt der Vertrag von Washington unterzeichnet. In diesem Dokument sicherten sich die damals erst zwölf Gründerstaaten ihre wechselseitige Unterstützung zu. Führend waren dabei die Alliierten Frankreich und Großbritannien in Europa, die USA (und Kanada) in Amerika – nicht aber Deutschland. Zentrales Ziel war von Anfang an der Schutz zur Verteidigung ihrer Grundwerte: Freiheit und Demokratie. Ein militärischer Angriff auf einen Staat sollte als Angriff gegen alle eingestuft werden, heißt es im Artikel 5 des Dokuments.

Nato-Flaggenparade anlässlich ihres 75-jährigen Bestehens vor dem Buckingham Palace in London.
Nato-Flaggenparade vor dem Buckingham Palace in London anlässlich ihres 75-jährigen Bestehens.
REUTERS/Maja Smiejkowska

Damit wurde vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus das Prinzip der "kollektiven Verteidigung" begründet. Es hat bis heute unverändert Bestand, bildet den Kern des Nordatlantikpakts, auch wenn sich Aufgaben, Strategien und Prioritäten seither mehrfach verändert haben: Alle für einen, einer für alle. Beschlüsse müssen einstimmig gefasst werden. Die Nato setzt längst nicht mehr nur auf nukleare Abschreckung wie im Kalten Krieg. Sie betreibt auch eine "Partnerschaft für den Frieden", etwa mit Österreich.

Von London über Paris nach Brüssel

Der Brite Lord Hastings Ismay wurde erst 1952 der erste Generalsekretär der Allianz. Diese hatte ihren Sitz zuerst auch in London, bevor sie ihr Hauptquartier zwischenzeitlich in Paris aufschlug. 1967 ging es nach Brüssel, wo auch die Europäische Union ihre Zentrale begründete. Frankreich hatte 1966 die militärische Struktur der Nato verlassen, pochte auf Souveränität. Alles kein Zufall – bis heute.

Gleich nach dem Krieg trieb die Alliierten in den Demokratien im Westen des Kontinents die Sorge vor den imperialistischen Gelüsten von Josef Stalins Sowjetunion um. London und Paris versuchten mit den Beneluxstaaten, eine Militärunion ("Pakt von Brüssel") zu schaffen. Sie ging in der Nato auf.

Das trockene Bonmot des Generals zum Sinn der Nato ist daher auch 2024 – zwei Jahre nach dem russischem Angriff gegen die Ukraine, dem ersten Eroberungskrieg auf europäischem Boden seit 1945 – noch spannend. Leicht abgeändert reflektiert es die modernen Herausforderungen an das Bündnis.

EU-Militärunion bleibt ein Traum

Die Europäer haben zwar die weitgehend integrierte EU, 1957 gegründet, mit inzwischen 27 Mitgliedern wie die Nato ebenfalls in Schritten erweitert. Aber sie haben – wie in den Jahrzehnten des Kalten Krieges und danach nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 – noch immer keine Militärunion. Die ist de facto in die Nato ausgelagert.

2024 könnte Lord Ismay sagen: Die Nato ist dazu da, die USA möglichst weiter als Bündnispartner zu erhalten. Die USA haben neue strategische Ziele und Interessen im pazifischen Raum, mit China als Gegner.

Nato-Landkarte

Die Sowjetunion von 1949 unter Diktator Josef Stalin und den Warschauer Pakt gibt es längst nicht mehr. Sie lösten sich 1991 auf. Russland wurde zwischendurch in einem eigens geschaffenen Nato-Russland-Rat sogar Nato-Partner. Das ist seit der Annexion der Krim 2014 Geschichte. Mit dem Krieg in der Ukraine zeigte Russland unter Wladimir Putin, dass es für einen militärischen Angriff in Ost- und Ostmitteleuropa gut ist. Die Nato-Partner versuchen, Moskau "draußen" zu halten.

Neue Rolle für Deutschland

Bleibt Deutschland, das größte und wirtschaftlich stärkste EU-Land. Es soll nicht mehr "unten" gehalten werden – im Gegenteil: Seit der von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen "Zeitenwende" und Putins (nuklearen) Drohungen wird der Ruf nach mehr militärischem Engagement in Berlin immer lauter. Die friedensverwöhnten Deutschen streiten darüber verwirrt.

Zwischen 1949 und 2024 liegt also eine erstaunliche Entwicklung. Deutschland im Tandem mit Frankreich und Polen als militärische Führungsmächte in der EU, ohne Großbritannien, das 2020 aus der EU ausgetreten ist: Wer hätte das gedacht? Oder: Dass ein chancenreicher Kandidat für das US-Präsidentenamt, Donald Trump, den transatlantischen Partnern mit dem Ende der Nato droht und gleichzeitig den russischen Präsidenten ermuntern könnte, sich in Europa zu nehmen, was er für richtig hält – lange undenkbar.

Bei einem Jubiläumsgipfel der Staats- und Regierungschefs Anfang Juli in Washington wird sich das alles mit Joe Biden in ganz konkreter Politik niederschlagen. Die Europäer in der Nato rüsten auf, wie im vergangenen Jahr in Vilnius beschlossen, stationieren fix Truppen an den Grenzen zu Russland und Belarus, auch am Schwarzen Meer.

Bei diesem Treffen dürfte auch entschieden werden, wer neuer Generalsekretär wird. Derzeitiger Favorit: der niederländische Premierminister Mark Rutte. Gegenkandidat mit Außenseiterchancen ist der rumänische Präsident Klaus Iohannis. Er wäre der erste Nato-Chef aus Osteuropa, jenem Teil des Kontinents also, der sich ab 1989 von kommunistischer Diktatur und Warschauer Pakt befreit hat – und das friedlich. (Thomas Mayer, 4.4.2024)