Mädchen mit Europa-Fahne
Die kommende EU-Wahl könnte auch für die Wissenschaft große Auswirkungen haben.
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STANDARD: Europa hatte historisch eine Vorreiterrolle in der Wissenschaft. Welche spezielle Rolle spielt Wissenschaft Ihrer Meinung nach heute noch in Europa?

Faßmann: Forschung ist für Europa extrem wichtig. Wir befinden uns geopolitisch im Wettbewerb mit China, mit den USA, mit Japan und Südkorea. Und da muss man eindeutig konstatieren: Da macht Europa zu wenig und fällt tendenziell eher zurück. Sowohl was die öffentliche Finanzierung von Forschung angeht als auch die Beteiligung der Unternehmen. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht verlieren.

Cramer: Europa ist nach wie vor ein attraktiver Forschungsstandort, aber man darf sich auf keinen Fall darauf ausruhen. Die Attraktivität des Standorts Europa steht und fällt damit, ob wir eine Willkommenskultur haben. Und das bestimmt auch die Gesellschaft, nicht nur die wissenschaftlichen Einrichtungen. Nach dem Brexit geht Großbritannien nun zurück ins "Horizons"-Programm. Das zeigt mir: Wir können nur als europäischer Forschungsraum insgesamt bestehen.

Faßmann: Um das mit Zahlen zu untermauern: In Europa, der EU, leben derzeit sechs Prozent der Weltbevölkerung. In absehbarer Zeit werden es vier Prozent sein. Das EU-Europa hat vor wenigen Jahrzehnten 25 Prozent des globalen BIPs erwirtschaftet. Heute stehen wir bei 14 Prozent, und die Entwicklung geht auf unter zehn Prozent. Um geopolitisch nicht zu verlieren, sind für mich Wissenschaft und Forschung die einzig denkbare Lokomotive, die uns noch zu einer bestimmten Bedeutung verhelfen kann.

Heinz Faßmann
Heinz Faßmann ist Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
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STANDARD: Bei den anstehenden EU-Wahlen scheinen jedoch populistische Parteien mit EU-kritischer Haltung auf dem Vormarsch zu sein, die auch Zuwanderung skeptisch gegenüberstehen. Welche Auswirkungen könnte das für die Wissenschaft in Europa haben?

Cramer: Wir können uns einfach keine Abschottung leisten. Wir brauchen Zuwanderung, und dabei müssen wir differenzieren: Wir brauchen Zuwanderung von Fachkräften. Wir brauchen Menschen, die leistungsbereit sind, die bereit sind, sich mit ihren eigenen Ideen und Talenten einzubringen. Und für diese Menschen brauchen wir eine Willkommenskultur. Wir haben eine demografische Entwicklung in weiten Teilen Europas, bei der die Gesellschaft überaltert. Es geht jetzt schon los, dass wir etwa unsere Stellen für Promovierende nur mit Schwierigkeiten besetzen können. Wir sind darauf angewiesen, Talente aus der ganzen Welt anzuziehen. In der Max-Planck-Gesellschaft haben 60 Prozent unserer Promovierenden keinen deutschen Pass, und bei den Postdocs sind es sogar 80 Prozent.

Patrick Cramer
Patrick Cramer ist Präsident der deutschen Max-Planck-Gesellschaft.
Christoph Mukherjee

STANDARD: Was kann Europa tun, um für wissenschaftliche Talente noch attraktiver zu werden?

Cramer: Geld zu investieren ist natürlich immer förderlich, aber wichtig scheint mir vor allem das richtige Mindset, nämlich Leistungsbereitschaft, Offenheit und eine Willkommenskultur. Darüber hinaus braucht es auch weniger Regulierung. Wir haben eine Tendenz in Europa, stark zu regulieren und dann zu versuchen, diese Regulation in die Welt zu exportieren. Wir sollten aber, anstatt tendenziell überzuregulieren, erst die Chancen neuer Technologien sehen und dann darauf reagieren. Ein Beispiel ist der AI Act: Einerseits wollen wir natürlich Missbrauch verhindern, wir wollen keine Deepfakes, und wir wollen nicht, dass die Wahlen von KI beeinflusst werden. Andererseits wollen wir Freiräume, um mehr Künstliche Intelligenz zu entwickeln, und deshalb ist die Forschungsausnahme in dem Regelwerk gut. Aber insgesamt tendieren wir in Europa leider zu Überregulation, und das ist schädlich.

STANDARD: Quer durch Europa hat sich in der Pandemie gezeigt, dass Wissenschafter und Wissenschafterinnen verstärkt Anfeindungen ausgesetzt waren. Wie lässt sich wieder mehr Vertrauen in die Wissenschaft gewinnen?

Faßmann: Vertrauen in die Wissenschaft ist eine sehr wichtige Sache. Wir müssen das tun, was wir am besten können: Aufklären, erklären, die Sprache der Menschen sprechen, die auch unsere Wissenschaft verstehen. Das ist nicht nur moralische Verpflichtung, sondern letztlich auch eine zweckrationale Handlung. Denn wenn die Bevölkerung Interesse an dem hat, was unser Interesse ist, dann wird sie uns direkt oder indirekt auch bei der entsprechenden Finanzierung politisch unterstützen.

Cramer: Wir können die Menschen daran erinnern, dass die Freiheitsrechte, die wir in Europa genießen – und dazu gehören nicht nur die Meinungsfreiheit und Pressefreiheit, sondern auch die Wissenschaftsfreiheit –, dass diese Freiheitsrechte nicht gottgegeben sind. Indem man wählen geht, kann jeder dazu beitragen, dass diese Freiheitsrechte erhalten bleiben.

STANDARD: Herr Cramer, Sie haben kürzlich ein Buch über die Zukunft der Wissenschaft vorgelegt. Was ist Ihr Ausblick auf die Wissenschaft von morgen?

Cramer: Ich habe mit über 1000 Wissenschafterinnen und Wissenschaftern Gespräche an 84 Instituten an 38 deutschen und vier ausländischen Standorten geführt. Die Antwort auf Ihre Frage ist: Es kommt darauf an! Das hat mit der Fachkultur zu tun. Ich sehe im Bereich der Maschinen eine ganz große Entwicklung. Das umfasst nicht nur Künstliche Intelligenz, sondern auch lernfähige Maschinen. Wenn maschinelles Lernen mit Robotik kombiniert wird, dann entstehen dadurch intelligente Systeme, die Vorhersagen über die Zukunft treffen und diese auch überprüfen können. Auch Forschungslabore werden sich völlig ändern, sie werden in weiten Teilen automatisiert werden. Es wird zu einer Koevolution kommen von biologischen Wesen mit Maschinen. Sensationelle Entwicklungen entstehen meistens dann, wenn neue Technologien am Horizont erscheinen. Dann machen wir die großen Sprünge, weil wir auf einmal Dinge sehen, die wir vorher nicht sehen konnten. In der Wissenschaft geht es eigentlich darum, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Und es gibt noch ganz viel da draußen, das noch nicht in vollem Umfang sichtbar gemacht wurde. Es ist eine spannende Zeit, in der wir leben.

STANDARD: Herr Faßmann, wie blicken Sie in die Zukunft der Wissenschaft?

Faßmann: Ich habe noch kein Buch darüber geschrieben. Aber ich folge Herrn Cramer, dass die Wissenschafter und Wissenschafterinnen oft am besten wissen, was die nächsten Zukunftsfragen sind. Man sollte die Gestaltungskraft der Wissenschafter und Wissenschafterinnen fördern, aber nicht vorschreiben, was die zukünftige Forschungsfrage sein wird. Die richtigen Rahmenbedingungen sind insbesondere auch für junge Menschen wichtig, die wahrscheinlich dem Innovativen und Disruptiven näherstehen als die altgedienten Recken, die schon ihre 60 überschritten haben – mich eingeschlossen. (Tanja Traxler, 8.5.2024)