Illustration stellt einen Mann dar, der auf einem Faden balanciert. Das linke Ende des Fadens ist in einem Knäuel verwickelt, das rechte Ende ist schön aufgerollt.
Das Unterbewusstsein ist immer stärker als der rationale Teil des Gehirns. Erst wenn man früh entwickelte Verhaltensmuster hinterfragt, kann man diese auch auflösen.
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Sie sitzt ungestylt und in entspannter Kleidung in einem gemütlichen Wohnzimmer auf einem Fauteuil, eine Pflanze rankt sich vom Bücherregal herunter, auf ihren Schoß springt ein zerzauster Hund, ein Bedlington Whippet. Dazu läuft entspannte Musik, sieht alles sehr gemütlich aus. Und dann spricht Annie Zimmerman darüber, warum die 20er für viele so eine Enttäuschung sind, was das Problem mit Fuckboys ist und wie man mit einer schwierigen Trennung zurechtkommt.

Zwischen 30 und 60 Sekunden dauern die Tiktok-Clips, die Londoner Psychotherapeutin ist als your_pocket_therapist auf der Plattform präsent. Über 350.000 Personen folgen ihr dort, noch einmal so viele sind es auf Instagram, ihre Clips haben mehr als zehn Millionen Likes. In London hat Zimmerman eine florierende Praxis. Und sie hat ein Buch geschrieben, "Your Pocket Therapist", das vor kurzem auf Deutsch im Piper-Verlag erschienen ist. "Fünf Schritte für mentale Gesundheit", steht auf dem Cover, und "#tiktokmademebuyit".

Im ersten Moment will man diesen Zugang als oberflächlich abtun. Immerhin geht es hier um Psychotherapie, und das ist doch eine ernste Sache. Doch im Gespräch zeigt sich schnell: Da ist keine Spur von Oberflächlichkeit, Zimmerman gibt keine simplen Antworten auf komplexe Probleme. "Auf Tiktok geht es für mich in erster Linie um Bewusstseinsbildung. Natürlich kann man da keine Therapie machen, aber man kann Aufmerksamkeit schaffen für bestimmte Probleme und die Menschen dazu animieren, hinzuschauen", sagt Zimmerman im STANDARD-Interview. Sie erklärt außerdem, dass das Bedürfnis nach Therapie nicht zwingend mit einer schwierigen Kindheit zu tun hat – und was dabei hilft, die eigenen Verhaltensmuster zu verändern.

Tiktok-Clip von Annie Zimmerman.

STANDARD: Über Psychotherapie sprechen die Menschen mittlerweile recht offen. Doch man hat immer noch oft den Eindruck, das sollten die anderen machen, einem selbst gehe es ja gut, man brauche das nicht. Wie sehen Sie das?

Zimmerman: Das stimmt, wahrscheinlich haben sogar immer noch recht viele Menschen Angst vor Therapie. Sie stellen zwar fest, dass es anderen geholfen hat, und befürworten es. Aber sie selbst schrecken zurück vor der Verletzlichkeit, die sie damit assoziieren. Das ist auch sehr verständlich, es ist ja nicht gerade das Angenehmste, tief in das eigene Seelenleben hineinzugraben. Aber gerade ändert sich da recht viel, vor allem die jüngere Generation findet es fast schon normal zu sagen "Oh, meine Therapeutin hat gesagt" oder "Ich gehe heute zum Therapeuten". Die Menschen überdecken weniger und schämen sich auch nicht mehr so, wenn sie emotionale Themen haben. Und je mehr offen darüber reden, desto niedriger wird die Hemmschwelle.

STANDARD: Manche sagen auch, die jungen Menschen seien zu verweichlicht, jedes kleine Problem verursache gleich ein Trauma. Ist da was dran?

Zimmerman: Nein, das finde ich gar nicht. Es gibt verschiedene Gründe dafür, warum diese Generation aufmacht. Sie wachsen mit permanenter Social-Media-Präsenz auf, in einer Onlinewelt, in der Verletzlichkeit fast schon eine Währung ist. Sogar Celebritys sprechen über ihre schlimmen Erfahrungen, man muss nur einmal "The X Factor" oder "Pop Idol" schauen. Die Menschen dort sprechen über all die schrecklichen Dinge und Traumata, die sie schon erlebt haben.

Das ist eine ziemliche Veränderung, noch vor einigen Jahren ging es in erster Linie darum, dass alles perfekt und man immer glücklich ist. Ich denke, durch das "Online-Aufwachsen" haben die Jungen viel weniger Angst davor, Fehler zu machen. Dazu kommt, dass diese Generation auch die Möglichkeiten und die Kapazitäten hat, sich um die eigene Psyche zu kümmern. In der Elterngeneration, oft noch vom Krieg geprägt, war Ruhig-Bleiben und Weitermachen das oberste Motto, da gab es einfach viel weniger Spielraum für emotionale Probleme. Und das ändert sich gerade.

STANDARD: Sie sind sehr präsent auf Tiktok. Psychotherapie ist aber ein sehr komplexer Vorgang. Sind 30-Sekunden-Clips da der richtige Zugang?

Zimmerman: Das ist natürlich schwierig, und ganz vieles bleibt in so einer kurzen Zeitspanne ungesagt. In Wirklichkeit ist Tiktok genau das Gegenteil von Therapie. So ein Prozess zieht sich ja oft über mehrere Jahre, man geht sehr in die Tiefe und öffnet sich, entwickelt Neugierde, anstatt die Dinge herunterzubrechen. Ich sehe Social Media vielmehr als Psychoedukation, man bekommt eine Idee von unterschiedlichen Konzepten von Beziehungen, von Kindheitserfahrungen und mehr, die vielleicht die Neugierde wecken und auch helfen, gewisse Situationen besser zu verstehen. Social Media und Therapie sind definitiv zwei sehr unterschiedliche Dinge, aber das bedeutet nicht, dass das eine nicht vom anderen profitieren kann.

STANDARD: Wie funktioniert Therapie eigentlich? Gibt es da ein bestimmtes Rezept?

Zimmerman: Ein Rezept gibt es nicht, jeder braucht etwas anderes. Manche wollen einfach, dass ihnen jemand, dem sie am Herzen liegen und der sie auch unterstützt in ihren Plänen und Ideen, wirklich zuhört. Andere wollen mehr über sich selbst lernen, die eigenen Emotionen und Reaktionen besser verstehen.

Für mich bedeutet Therapie eine Beziehung zwischen Klient und Therapeutin, die einem hilft, innerlich zu heilen. Da geht es nicht nur um Werkzeuge und Übungen, sondern auch um die Tatsache, dass man regelmäßig mit einer Person in einem Raum sitzt, die wirklich zuhört und auf Dinge hinweist, die einem selbst womöglich nicht bewusst sind. Gerade diese Konsistenz ist so wichtig, bei sehr vielen Menschen gab es in der Kindheit Dynamiken, in denen Bezugspersonen nicht konsistent und damit nicht zuverlässig waren. Das muss nicht immer gleich große Traumata ausgelöst haben. Da kann schon die Tatsache reichen, dass die Eltern viel gearbeitet haben oder dass ein Geschwisterchen auf die Welt gekommen ist und die Aufmerksamkeit der Eltern auf einmal geteilt werden musste, also ganz normale Dinge. Es geht einfach darum, die Vergangenheit zu verarbeiten und zu verstehen, damit wir uns von Bewältigungsstrategien, die uns im heutigen Leben behindern, befreien können.

STANDARD: Das klingt so, als sollten eigentlich alle Menschen in Therapie gehen.

Zimmerman: In einer idealen Gesellschaft wahrscheinlich schon. Auf jeden Fall sollte man es tun, wenn man das Gefühl hat, dass man irgendwo feststeckt, dass bestimmte Situationen oder Typen von Menschen, mit denen man sich nicht gut fühlt, immer wieder im eigenen Leben auftauchen. Das bedeutet nicht, dass man schwach ist oder es allein nicht schaffen kann. Im Gegenteil, für Therapie braucht man viel Mut. Immerhin schaut man sich eigene dunkle Seiten und blinde Flecken an. Aber es ist ein großes Privileg, wenn man längere Zeit in eine private Therapie gehen kann. Es gibt genug Menschen, die sich das leider nicht leisten können.

STANDARD: Aber viele Menschen hatten ja eine glückliche Kindheit. Muss man immer gleich überall Drama sehen?

Zimmerman: Natürlich. Aber trotzdem sind fast bei jeder Person Dinge passiert, die man damals nicht wirklich einordnen konnte. Und ich denke, vielen ist nicht klar, wie sehr uns diese Erlebnisse auch im Erwachsenenalter beeinflussen. Unsere Gehirne sind in jungen Jahren wie Schwämme, sie saugen alles auf. Aber wir verstehen es nicht, ein Kleinkind hat ja keine Möglichkeit, etwas rational einzuordnen. Alles Erlebte wird als absolute Wahrheit empfunden. Aus diesen Erfahrungen entwickelt sich dann zum Beispiel das Verständnis dafür, unter welchen Umständen man geliebt wird oder wie Menschen miteinander kommunizieren, wie man Meinungsverschiedenheiten löst.

Wenn man dann als erwachsene Person die immergleichen Probleme in Beziehungen hat, in der Arbeit ständig übergangen wird oder auch sehr schnell zornig wird, um nur ein paar Beispiele zu nennen, kann man das erst dann verändern, wenn man den Grund verstanden hat, der zu diesen Verhaltensmustern führt. Vielleicht haben die Eltern geschimpft, wenn man als Kind zu emotional war für sie. Dann hat man begonnen, die eigenen Emotionen wegzudrücken oder anders zu befriedigen, zum Beispiel mit Essen oder Computerspielen. Und als Erwachsener kann man seine Gefühle nicht mehr zeigen. Das sind oft scheinbar kleine Dinge, die sich auf ein Kind aber massiv auswirken können. Es geht dabei übrigens gar nicht darum, die eigenen Eltern zu kritisieren oder irgendjemanden dafür verantwortlich zu machen. Es geht einfach nur darum, dieses innere Kind zu verstehen, warum es in welcher Situation wie reagiert.

Buchcover
Die britische Psychotherapeutin Annie Zimmerman hat das Buch "Your Pocket Therapist" geschrieben, nun ist es im Piper-Verlag auf Deutsch erschienen und kostet 18,95 Euro.
Piper

STANDARD: Wie überall gibt es auch in der Psychotherapie Trends. Seit einiger Zeit ist das Trauma sehr präsent, Sie haben schon erwähnt, dass auch Celebritys ihre traumatischen Erlebnisse teilen, dass es eine regelrechte Währung ist im Netz. Woran liegt das? Sind wir wirklich alle traumatisiert?

Zimmerman: Die Frage ist, was als Trauma gesehen wird. In meinem Buch unterscheide ich zwischen großen und kleinen Traumata. Ein großes, um nicht zu sagen riesiges, Trauma ist jede Form von Gewalterfahrung, sexueller Missbrauch, Vergewaltigung oder auch ein schwerer Autounfall. Also etwas, das einen enormen Schock auslöst. Und dann gibt es die kleinen Traumata, etwa wenn man als Kind oft angeschrien wird, wenn man sich allein fühlt oder Angst hat, wenn einen vielleicht andere Kinder mobben. Das sehen viele nicht als Trauma im klassischen Sinn, aber ein kleines Kind kann in solchen Situationen wirklich große Angst empfinden.

Diese Auseinandersetzung ist irgendwo auch eine Rückbesinnung auf Sigmund Freud, der sich wahrscheinlich als Erster mit dem Trauma auseinandergesetzt hat. Er hat verstanden, dass die physischen Probleme seiner Klientinnen und Klienten von psychischen Erlebnissen, die im Unterbewusstsein vergraben waren, ausgelöst wurden. In den vergangenen Jahrzehnten ist dieser Zugang eher in den Hintergrund getreten, man hat versucht, die Themen auf einer kognitiveren Ebene zu lösen. Aber jetzt wird immer klarer, wie wichtig das Verarbeiten dieser Erfahrungen ist.

STANDARD: In Ihrem Buch schreiben Sie ausführlich über das Thema Beziehungen. Gerade in dieser engen Verbindung mit einem anderen Menschen kommen ja viele Themen erst so richtig zutage. Manche sagen auch, man sucht sich sozusagen den eigenen Vater, die eigene Mutter als Partner aus. Was ist da dran?

Zimmerman: Das hat schon etwas für sich. Natürlich denkt man nicht darüber nach, wenn eine Person, die man attraktiv findet, einen Raum betritt. Es ist einem einfach passiert, dass man sich verliebt hat. Aber tatsächlich finden wir, auf einer unbewussten Ebene, Menschen attraktiv, mit denen wir Erfahrungen aus der Vergangenheit wieder erleben. Wir kreieren unbewusst die Beziehung zu unserem Vater, zu unserer Mutter oder einer anderen wichtigen Bezugsperson wieder, weil wir uns in diesem Beziehungsmuster sicher fühlen. Gleichzeitig ist es ein Versuch des Unterbewusstseins, die Probleme in diesen früheren Beziehungen zu lösen.

Das begegnet einem auch in der Arbeit, aber da kann man es meist ganz gut wegschieben. In einer Partnerschaft dagegen ist man so eng verbunden, da gibt es eine Intimität, die viele Emotionen triggern kann, die einem nicht rational erscheinen. Natürlich kann der Partner oder die Partnerin ein furchtbarer Mensch sein. Aber um aus so einer Spirale herauszukommen, muss man immer auch bei sich selbst hinschauen, welche Verhaltensmuster da zum Vorschein kommen. Therapie bedeutet ja auch, Verantwortung für die eigenen Handlungen zu übernehmen. Aber auf liebevolle Art und Weise, nicht indem man sich selbst kleinmacht oder herabsetzt.

STANDARD: Was ist das Wichtigste, was man für ein gutes Leben lernen sollte?

Zimmerman: Man sollte sich darüber im Klaren sein, wie groß der Einfluss des Unterbewusstseins ist. Wenn wir etwas verändern wollen in unserem Leben, aber das Unterbewusstsein dabei nicht miteinbeziehen, dann wird es einfach nicht gelingen.

STANDARD: Und wie schafft man es, das Unterbewusste zu erkunden?

Zimmerman: Indem man neugierig ist und liebevoll zu sich selbst. Wir haben oft die Tendenz dazu, sehr streng mit uns umzugehen und jeden kleinsten Fehler zu kritisieren. Zum Beispiel, wenn man die Geduld verloren hat und jemanden anfährt, dann fühlt man sich schlecht. Aber bei diesem Sich-selbst-Runtermachen lernt niemand etwas. Ist man dagegen neugierig und schaut liebevoll hin, ergründet, warum man jetzt so reagiert oder gehandelt hat, was die Emotion ausgelöst hat, dann macht man auf und lässt die darunterliegenden Gefühle heraus. Man schaut womöglich dorthin, wo es unangenehm ist. Und nur, wenn man sich da drübertraut, wird man auf einer persönlichen Ebene wachsen. (Pia Kruckenhauser, 7.4.2024)