Joe Biden und Benjamin Netanjahu Mitte Oktober 2023 bei einem Treffen in Tel Aviv.
Joe Biden und Benjamin Netanjahu Mitte Oktober 2023 bei einem Treffen in Tel Aviv.
IMAGO/Miriam Alster

Sechs Monate lang hat er ihn umarmt, bekniet und ermahnt. Doch nun scheint Joe Bidens Geduld mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu aufgebraucht. Seit mehr als 40 Jahren kennt er "Bibi". Jetzt lässt er seinen Sprecher John Kirby nach einem halbstündigen Telefonat erklären: "Die Frustration wächst." Wenn es "in den nächsten Stunden und Tagen" keine echten Veränderungen der israelischen Kriegsführung im Gazastreifen gebe, "dann wird es Veränderungen von unserer Seite geben".

Das ist die bislang schärfste Kritik aus Washington seit Beginn der israelischen Bodenoffensive nach der Terrorattacke der Hamas. Bemerkenswerterweise fehlt in der schriftlichen Erklärung des Weißen Hauses der übliche Hinweis auf das Selbstverteidigungsrecht Israels. "Inakzeptabel" werden die tödlichen Luftschläge auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen wie die gesamte humanitäre Situation im Gazastreifen genannt und eine "sofortige Waffenruhe" gefordert. Erstmals wird ein direkter Zusammenhang zwischen der amerikanischen Gaza-Politik und dem israelischen Verhalten hergestellt.

Klare Botschaft

Zwar mochte Sprecher Kirby immer noch keine konkreten Konsequenzen für den Fall benennen, dass die Netanjahu-Regierung weiter ohne hinreichende Rücksicht auf die palästinensische Zivilbevölkerung ihre Militärmaschine durch den Gazastreifen walzen lässt, Lebensmittellieferungen blockiert oder gar das mit Flüchtlingen überfüllte Rafah bombardiert. Aber seine Botschaft war klar: Joe Biden will sich nicht länger von Netanjahu vorführen lassen, der keinerlei Interesse an einer Eindämmung des Kriegs oder gar einer Zwei-Staaten-Lösung zu haben scheint. Mittlerweile hat Israel reagiert und eine Erhöhung der humanitären Hilfe für Gaza angekündigt, die vom Weißen Haus begrüßt wurde.

Auf alle Fälle ist die Kurskorrektur überfällig. Washington ist der wichtigste Waffenlieferant Israels. Es unterstützt das Land jährlich mit Militärhilfen von 3,8 Milliarden Dollar (3,5 Milliarden Euro). Eine klare Mehrheit der US-Bürger ist mit der Art der israelischen Kriegsführung, die nach Angaben der Gesundheitsbehörden von Gaza mehr als 30.000 Palästinensern und Palästinenserinnen das Leben gekostet hat, nicht einverstanden. Der schmale Gazastreifen ist komplett verwüstet, es droht eine gewaltige Hungersnot. Dass nun sieben NGO-Helfer, die diese Katastrophe abmildern wollten, vom israelischen Militär getötet wurden, scheint Biden persönlich erschüttert zu haben.

Warnung aus Obamas Umfeld

Doch auch aus innenpolitischen Gründen ist es höchste Zeit, dass der US-Präsident den Druck auf Netanjahu massiv erhöht. Arabischstämmige und jüngere Wähler und Wählerinnen sind empört über seine bislang uneingeschränkt proisraelische Politik. Das könnte Biden im November den Wahlsieg kosten: Im Swing-State Wisconsin, den er 2020 mit gerade einmal 20.000 Stimmen Vorsprung gewann, haben ihm bei den demokratischen Vorwahlen am Dienstag 50.000 Frauen und Männer ihre Stimme verweigert. Längst fordern prominente demokratische Senatoren, weitere Waffenhilfen für Israel an strikte Bedingungen zu knüpfen. Und aus dem Umfeld von Ex-Präsident Barack Obama kommt die Warnung, Bidens bislang folgenlose Ermahnungen ließen ihn schwach aussehen.

Natürlich wird die Israel-Politik für jeden amerikanischen Präsidenten eine Gratwanderung bleiben. Biden kann seinem wichtigsten Verbündeten im Nahen Osten, der von Feinden umzingelt ist, nicht einfach die militärische Unterstützung verweigern. Aber er sollte sich auch nicht von Donald Trump links überholen lassen. "Das kann so nicht weitergehen", hat der Populist, der einst demonstrativ die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegte, vor wenigen Tagen mit sicherem Instinkt für die öffentliche Stimmung gesagt und Israel aufgefordert, seine Gaza-Offensive schnell zu beenden: "Wir brauchen Frieden." (Karl Doemens, 5.4.2024)