The Libertines erfreuen sich auf ihrem neuen Album des Umstands, dass es sie noch gibt.
The Libertines erfreuen sich auf ihrem neuen Album des Umstands, dass es sie noch gibt.
Ed Cooke

Zum Wunder des Lebens zählt wesentlich jenes des Überlebens. Das kommt einem in den Sinn, wenn man an Pete Doherty und Carl Barât denkt. Dass die beiden Sänger und Gitarristen der Libertines im Jahr 2024 ein neues Album veröffentlichen, widerspricht eigentlich der grausamen Logik jenes Rock-'n'-Roll-Lifestyles, dem sie vor 20 Jahren über Gebühr nachhingen. Sie frönten einem todesverachtenden, von Giften beschleunigten Sturm-und-Drang-Wahnsinn, zu dem nur junge Menschen fähig sind. Später machen die Leber und anderes inwendiges Zeug dann sowieso nicht mehr mit.

Das war nicht schön anzusehen, aber dabei fielen zwei prächtige Tondokumente ab, die The Libertines für kurze Zeit als eine der angesagtesten Bands des Planeten England und einiger seiner Trabanten erscheinen ließen. Ihr zerschossener, dabei eingängiger und vom Furor des Punks beförderter Rock besaß nicht nur zwei charismatische Übermittler. Die Musik der 1997 gegründeten Libertines besaß eine infizierende Macht, bot prächtige Hooklines in Schieflage, abenteuerliche Tempi und eine Beseeltheit, die das Ramponierte zärtlich abfederte.

Zu viel Käse

Wenn Doherty und Barât heute über diese Zeit und ihre komplizierte Freundschaft nachdenken, fließen zumindest auf Doherty-Seite Tränen, wie ein Gespräch mit den beiden vor ein paar Wochen im britischen Guardian eröffnete. Doherty hat sich physisch nach Jahren des körperlichen Raubbaus gut verdoppelt und lebt mit Frau und Kind in Frankreich. Dort isst er nach eigenen Angaben zu viel Käse, im Vorjahr gab er bekannt, an Typ-2-Diabetes zu leiden.

The Libertines - Run Run Run
TheLibertinesVEVO

Barât ist immer noch der Modeltyp von damals, älter natürlich; und beide geben an, dass ihnen ihre Familien den notwendigen Halt geben, um ihre Dämonen halbwegs im Griff zu haben. Dahin war es ein weiter, harter Weg.

Dohertys Beziehung mit dem Supermodel Kate Moss in den Nullerjahren war neben Amy Winehouse eines der Lieblingssujets der britischen Yellow Press. Doherty nahm damals alles, was gegen ein längeres Leben spricht: Crack-Kokain, Heroin – und Gummibärli ohne Ende, weil selbst ein Junkie Vitamine braucht. Jeder Dauerkater und jedes Zwischen-High waren von unzähligen Fotos dokumentiert.

Nach dem Split der Libertines 2004 gingen beide mehr oder weniger fruchtbaren Solokarrieren nach. Doherty torkelte mit den Babyshambles über Bühnen und durch Städte – wenn er denn auftauchte. Barât veröffentlichte Alben unter eigenem Namen oder mit den Dirty Pretty Things – später den Jackals.

Bestätigte Talente

Im Zustand einer ewigen Hassliebe fanden die beiden ehemaligen Kunstuni-Studenten immer wieder zueinander – ebenfalls eine Form der Abhängigkeit. 2015 erschien mit Anthems for Doomed Youth gar ein drittes Album, neun Jahre später ist jetzt mit All Quiet on the Eastern Esplanade ein viertes erschienen. Das eröffnet mit dem gehetzt und nach Hausmarke klingenden Lied Run Run Run – doch das Tempo halten die beiden nicht.

Es ist ein Sprint, für den Marathon des elf Songs umfassenden Werks fehlt die Puste, doch das macht nichts. Run Run Run zeigt: Die beiden können es immer noch, es ist eine von schrammelnden Gitarren angetriebene Pop-Perle, die die Talente der beiden beschwört und bestätigt. Beim vierten Song wird einmal das Tempo herausgenommen, der Chronik und der Dramatik steht das gut an, denn selbst wenn der frühe Irrsinn einem gesetzteren Habitus gewichen ist, die Fantasie der beiden hat nicht gelitten.

The Libertines - Night Of The Hunter
TheLibertinesVEVO

Das mit Klavier unterstützte Merry Old England erinnert ein wenig an den großen Neil Hannon und seine Band Divine Comedy – die ökonomisch eingesetzten Streicher stützen diese Behauptung. Darin taucht die Zeile "congrats on staying alive" auf. Ein Moment des Innehaltens und der Reflexion, wenn man so will. Der Wille zum Überleben soll auch die Aufnahmebedingungen beherrscht haben.

Barât bestand auf eine vollständig trockene Umgebung, was den immer noch gern zum Cider greifenden Doherty ein oder zwei graue Haare mehr beschert haben soll. Doch das Ergebnis gibt Barât recht. All Quiet on the Eastern Esplanade ist eine Anspielung auf die Aufnahmeumgebung und auf Erich Maria Remarques Antikriegsroman Im Westen nichts Neues. Mehr noch ist es ein Zeugnis davon, dass die beiden nüchtern nicht schlechter sind als im Zustand der galoppierenden Selbstauslöschung. All Quiet on the Eastern Esplanade ist ein souveränes Album, durchzogen von etwas Wehmut zwar, aber doch von der Euphorie überlagert, noch da zu sein, noch fähig zu sein, immer noch Musik zu machen. Ziemlich gute Musik sogar. (Karl Fluch, 6.4.2024)