Illustration einer Frau mit traurigem Ausdruck im Gesicht, vor sich hält sie eine Maske mit lächelndem Gesicht
Wer an einer hochfunktionalen Depression leidet, hat oft das Gefühl, sich hinter einer fröhlichen Fassade verstecken zu müssen – und leidet dann im Verborgenen.
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Auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung: Im Job läuft's gut, am Ende eines Tages sind alle To-dos auf der Liste abgehakt, und auch privat ist alles auf Schiene. Aber dann, am Abend, wenn alle beruflichen und familiären Verpflichtungen erfüllt sind, macht sich ein Gefühl der inneren Leere breit.

"Oft kommt es dann nach einem besonders anstrengenden Tag auch zu einer Art Zusammenbruch im Versteckten", sagt Kerstin Schuller. Sie ist klinische Gesundheits- und Arbeitspsychologin und sowohl in freier Praxis als auch bei Instahelp tätig, einer Plattform für psychologische Onlineberatung. Schuller kennt die Leiden von Betroffenen einer sogenannten hochfunktionalen Depression daher gut: "Viele kennen vielleicht den Begriff hochfunktionale Depression als solches nicht, aber ich fürchte, viele Menschen kennen das Gefühl davon", sagt sie.

Betroffene dieser Form der Depression scheinen den Alltag noch "normal" bewältigen zu können. Aber sie verspüren dieselben Symptome wie bei einer klassischen Depression: Niedergeschlagenheit, Traurigkeit, Energiemangel, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen.

Unsichtbarer Leidensdruck

Der Leidensdruck ist dabei oft besonders groß. Denn Betroffene haben nicht nur ähnliche Symptome, wie sie bei einer klassischen Depression auftreten, sondern zusätzlich auch das Gefühl, dass niemand um sie herum ihr Leiden sieht: "Das ist eine wahnsinnig herausfordernde Situation. Sie haben den Eindruck, dass das Umfeld null Verständnis hat für ihre Gefühle und ihre Not nicht erkennt."

Aber wie auch? Eine hochfunktionale Depression ist schwierig zu erkennen. "Es ist nicht so, dass betroffene Personen ständig traurig wären, wie das oft vermutet wird. Viel eher spüren sie eine emotionale Leere und Gleichgültigkeit", sagt die Expertin.

Umso genauer sollten Nahestehende hinsehen, wenn sie die Vermutung haben, dass es jemandem in ihrem Umfeld nicht gutgeht, rät sie: "Auch wenn Betroffene vieles im Sozialleben aufrechterhalten, ziehen sie sich dennoch meist ein bisschen mehr zurück. Jemand, der früher gerne bei den After-Work-Drinks dabei war oder zwischendurch in der Büroküche mit Kolleginnen und Kollegen geplaudert hat, lehnt vielleicht Einladungen plötzlich öfter ab."

Halten diese kleinen Anzeichen gepaart mit Niedergeschlagenheit über zwei, drei Wochen hinweg durchgehend an, sollten Angehörige hellhörig werden – und Betroffene darauf ansprechen: "Am besten einfach ganz direkt, man kann da im Prinzip nichts falsch machen", betont Schuller. Fragen könne man etwa: Wie geht es dir? Gibt es etwas, das du dir von der Seele reden magst? Jedenfalls sollte man signalisieren, dass man die Person mit all ihren Gefühlen und Problemen akzeptiert, sagt die Expertin. "Und dann erstmal einfach zuhören, statt wohlgemeinte Ratschläge zu geben, auch wenn wir das Bedürfnis haben zu helfen." Jemandem zu sagen, er oder sie solle doch einfach mal an die frische Luft gehen und was Gesundes kochen, helfe in so einer Situation niemandem. Im Gegenteil, die Person fühlt sich überhaupt nicht verstanden.

Keine Zeit, krank zu sein 

Wie viele Menschen von einer hochfunktionalen Depression betroffen sind, lässt sich nicht genau sagen. Eben weil die Krankheit so unsichtbar ist, gibt es dazu kaum Zahlen. Man kann sich einem Wert nur annähern: Etwa vier Prozent der Weltbevölkerung sind laut Schätzungen der WHO im Laufe des Lebens von einer klassischen Depression betroffen.

Die Zahl jener mit einer hochfunktionalen Form davon ist wohl deutlich höher, vermutet Schuller. Und man weiß, dass Frauen eher davon betroffen sind als Männer. "Sehr häufig leiden nämlich vor allem jene Personen an einer hochfunktionalen Depression, die einfach funktionieren müssen. Junge Mütter zum Beispiel, an denen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zehrt. Die Gegebenheiten erlauben es ihnen einfach nicht, krank zu sein", sagt Schuller.

In manchen Fällen kann sich das auch wieder bessern, wenn etwa der Stress wieder nachlässt oder man früh genug gegensteuert. "Aber tatsächlich entwickelt sich aus einer anfänglichen funktionalen Depression später häufig eine klassische Depression. Werden Alarmsignale immer und immer wieder übersehen oder ignoriert, kann es letztlich auch leider zu einem Zusammenbruch und sogar zu einer stationären Behandlung kommen", weiß Schuller.

Alarmzeichen ernst nehmen

Erste Anzeichen einer hochfunktionalen Depression sollte man daher immer ernst nehmen, rät die Expertin – und sich gegebenenfalls professionelle Hilfe holen. Dabei haben Menschen in so einer Situation oft das Gefühl, kein Recht auf Hilfe zu haben, weiß Schuller. Schließlich kriegen sie den Alltag ja noch gut hin. Ist man da wirklich schon krank genug für eine Einheit bei einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten? Ja, ein Gespräch könne jedenfalls nicht schaden: "Wenn man das Thema früh genug ernst nimmt, kann man das Entstehen einer wirklich klinischen Depression noch gut abfangen."

Und schließlich kann nur ein Experte oder eine Expertin auf diesem Gebiet eine verlässliche Diagnose stellen. Oft liegen die Ursachen für die depressiven Symptome nämlich ganz woanders, als man vermuten würde. Deshalb ist für die Diagnosestellung auch oft ein Blutbild sinnvoll. Denn es gibt auch organische Erkrankungen, etwa im Bereich der Schilddrüse, die auch genau solche Symptome verursachen, erklärt Schuller: "Macht man diese medizinische Abklärung nicht, kann es sein, dass Personen meinen, mit einer Depression in Behandlung zu gehen. Und dann versucht man das mit Antidepressiva in den Griff zu bekommen, aber die eigentliche Ursache wird nicht behandelt. Im schlimmsten Fall wird die Krankheit dann über Monate oder Jahre verschleppt, ohne den Ursprung herauszufinden."

Viele mögliche Ursachen

Werden keine organischen Ursachen identifiziert, kann Stress ein entscheidender Faktor sein, etwa eine besonders belastende Phase während einer Scheidung, einem intensiven Jobwechsel oder Ähnliches. "Auch Traumatisierungen, emotionale Verletzungen und Substanzabhängigkeiten können eine große Rolle spielen, oder aber es hat mit einem Ungleichheit der Neurotransmitter im Gehirn zu tun", sagt Schuller. Kurz: Die Ursachen einer hochfunktionalen Depression sind vielfältig.

Dementsprechend individuell werden auch die Therapien gestaltet. In manchen Fällen kann medikamentöse Unterstützung durchaus sinnvoll sein. "Das Problem bei allen Formen der Depression ist ja, dass Betroffene so antriebslos sind. Das heißt, sie schaffen es einfach nicht wirklich, die Energie aufzubringen, die notwendigen Dinge zu tun, die sie eigentlich brauchen würden, um die Symptome zu lindern. Gezielt eingesetzte Medikamente können den Antrieb wieder zurückgeben, sodass andere Therapieformen dann gut greifen", erklärt Schuller. Das heiße aber nicht, dass immer Medikamente nötig seien. Die therapeutischen Maßnahmen seien immer individuell, oft könne auch eine Gesprächstherapie gut greifen.

Wichtig ist für Betroffene nämlich in erster Linie oft, dass ihnen zugehört und sie in ihren psychischen Schmerzen gesehen werden. Deshalb sei laut Schuller auch der beste Tipp für Nahestehende von Betroffenen: "Einfach zuhören und signalisieren: Es ist okay, und du bist wertvoll, auch wenn du jetzt gerade nicht so funktionierst wie früher." (Magdalena Pötsch, 10.4.2024)