Für einen kurzen Augenblick rückte Armenien in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Damals, als im September 2023 aserbaidschanische Truppen die armenische Enklave Bergkarabach eroberten. 120.000 dort ansässige Armenier flohen aus ihrer Heimat. "Am Morgen hörten wir Geräusche von mehreren Explosionen, wir setzten uns hin, um zu essen, doch dann kamen die Schüsse immer näher." Am Tag nach ihrem 74. Geburtstag musste Larissa Gabrielijan ihr Haus im Dorf Sarnachpür verlassen, so erzählte sie es dem STANDARD.

Armeniens Premier Nikol Paschinjan zu Gast bei der EU.
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Schnell verschwand Armenien wieder aus den Schlagzeilen. Die Ukraine, Gaza beherrschen die Nachrichten. Doch das Elend der Flüchtlinge ist geblieben. Und auch der Krieg. Erst vor Ende voriger Woche seien armenische Truppen an der Grenze von aserbaidschanischen Soldaten beschossen worden, mit "Kleinwaffen unterschiedlicher Kaliber", wie das armenische Außenministerium berichtet. Nachprüfen kann man das nicht. "Die armenischen Streitkräfte haben keine Maßnahmen ergriffen, um die Situation weiter zu verschlimmern, woraufhin sich die Situation an der Grenze beruhigte", so das Außenministerium.

Verluste für Armenien

Die beiden Ex-Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan streiten seit Jahrzehnten um Bergkarabach. Die Region zählt völkerrechtlich zu Aserbaidschan, hatte aber 1991 seine Unabhängigkeit von der Regierung in Baku erklärt. Anfang der 1990er-Jahre eskalierte der Konflikt zum Krieg, Armenien eroberte weite Teile der Region. Im Jahr 2020 dann erneut Kämpfe mit zahlreichen Toten, die nach sechs Wochen mit einer von Russland vermittelten Waffenruhe endeten. In einem Waffenstillstandsabkommen mussten die Armenier mehr als 70 Prozent der zuvor von ihnen kontrollierten Gebiete in Bergkarabach sowie besetzte aserbaidschanische Bezirke in der Umgebung abtreten.

Die Lage vor der völligen Niederlage. Nach Eroberungen durch Aserbaidschan musste Armenien Bergkarabach aufgeben. Weil Russland nicht halb, versucht man sich nun umzuorientieren.

Doch Bergkarabach kam nicht zur Ruhe. Mit dem Ukraine-Krieg hatte sich die weltpolitische Lage geändert. Russland, eigentlich die Schutzmacht Armeniens, braucht nun Aserbaidschan, will Handelswege in Richtung Iran aufbauen. Und Russland braucht die Türkei, die Schutzmacht Aserbaidschans. Über die Türkei werden viele Waren nach Russland exportiert, unter Umgehung der westlichen Sanktionen. Russlands Prioritäten hätten sich verändert, so der Publizist Boris Navasardyan gegenüber dem STANDARD. "Aserbaidschan ist heute für Russland wichtiger als Armenien. Dort bekommt Russland vieles, was Armenien nicht zu bieten hat." Aber auch die EU umschmeichelt Aserbaidschan. Statt aus Russland soll Gas jetzt aus Aserbaidschan kommen. Nun nutzte Baku die Gunst der Stunde, eroberte am 19. September 2023 Bergkarabach in nur einem Tag.

Aserbaidschan warnt

Von Russland enttäuscht, liebäugelt Armenien nun mit einem Anschluss an die EU. Weg von Russland? Die EU hat am Freitag ein Hilfspaket in Höhe von 270 Millionen Euro zugesagt. Kommissionspräsidentin Von der Leyen hatte sich zuvor in Brüssel mit dem armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan und US-Außenminister Antony Blinken über eine Stärkung der Beziehungen beraten. Paschinjan nannte die Gespräche einen "Beweis für die verstärkte Partnerschaft" mit der EU und den USA. Blinken kündigte an, die Wirtschaftshilfe für Armenien auf 65 Millionen Dollar zu erhöhen, um Armenien zu einem "starken, unabhängigen Staat zu machen, der mit seinen Nachbarn in Frieden lebt". Wenig Geld, verglichen mit den Milliarden, die für die Ukraine ausgegeben werden.

Auch Armeniens Außenminister Ararat Mirzojan blickt in Richtung der EU.
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Und Aserbaidschan? Präsident Ilham Alijew zeigt sich skeptisch. "Hochrangige US- und EU-Vertreter wollen uns weismachen, dass das Treffen in Brüssel sich nicht gegen Aserbaidschan richtet, aber es schafft neue Spannungen im Kaukasus", erklärte er. Inzwischen wird über einen offiziellen Friedensvertrag zur Beilegung des jahrzehntelangen Konflikts verhandelt. Die Gespräche gerieten jedoch wegen Meinungsverschiedenheiten ins Stocken. Aserbaidschan besteht auf die Rückgabe von weiteren Gebieten.

So schnell wird Bergkarabach nicht zur Ruhe kommen. Und es bleiben die vielen Flüchtlinge, die das bettelarme Armenien in die Krise stürzen. "Auch wenn es symbolische, internationale Sicherheitsgarantien gibt, selbst dann würden die Karabach-Armenier nicht zurückkehren", meint der Publizist Boris Navasardyan. "2020 hatten sie auf die russischen Friedenstruppen vertraut, dass sie dort leben könnten. Unter dem Schutz Russlands. Jetzt sind sie vollkommen enttäuscht." Nicht nur von Russland sind die Armenier enttäuscht, auch von ihrem Premier. Gemäß einer Umfrage sank Paschinjans Beliebtheitswert im März auf den historischen Tiefstand von nur acht Prozent. (Jo Angerer aus Moskau, 7.4.2024)