Es war alles andere als ein rauschendes Fußballfest, aber letztlich hat das ÖFB-Team am Montagabend in Aserbaidschan das EM-Ticket gelöst. Für die Menschen rund 300 Kilometer Luftlinie vom Tofiq-Bahramov-Stadion entfernt, in Bergkarabach, geht es um nichts weniger als um ihr Leben. Über 100.000 Armenier sind auf der Flucht, seit aserbaidschanische Truppen am 19. September in einem 24-Stunden-Krieg der international nicht anerkannten "Republik Arzach" ein Ende setzten. Völkerrechtlich ist die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Teil Aserbaidschans. In Baku nannte man den Krieg einen "Antiterroreinsatz", Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan sprach von "ethnischer Säuberung".

Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew küsst in Stepanakert die Flagge seines Landes.
Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew, wie er in Stepanakert, der Haupstadt der "Republik Arzach", die Flagge seines Landes küsst.
AFP/Azerbaijani Presidential Pre

Anfang der 1990er-Jahre führten Armenien und Aserbaidschan Krieg um die Region, 2020 ein weiteres Mal. Und jetzt nutzte Baku seine Chance zur endgültigen Eroberung Bergkarabachs. In der armenischen Kleinstadt Vayk, nahe der Grenze, kommen Tag für Tag tausende Flüchtlinge an. Zögernd, stockend erzählen sie dem STANDARD ihre Geschichten. "Am Morgen hörten wir Geräusche von mehreren Explosionen, dann kamen die Schüsse immer näher." Am Tag nach ihrem 74. Geburtstag musste Larissa Gabrielijan ihr Haus im Dorf Sarnachpür verlassen. Das Dorf wurde vollständig zerstört. "Nach zwei Kriegen sind wir zweimal zurückgekommen. Jetzt werden wir nicht mehr zurückkehren. Es gibt keine Heimat mehr, die Heimat ist verloren."

Massives Wachstum

Die internationalen Proteste gegen den jüngsten Krieg hielten sich in Grenzen, Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew hat derzeit gut lachen. Sein Amt hat er von seinem Vater "geerbt", kurzerhand ernannte er 2017 seine Ehefrau Mehriban zur Vizepräsidentin. Seit nunmehr drei Jahrzehnten beherrschen die Alijews das Land.

Vater Heydar Alijew war schon zu Zeiten Sowjetunion der Chef. Nach dem Zerfall des Riesenreiches gründete er den heutigen Staat Aserbaidschan, von 1993 bis zu seinem Tod 2003 war er Präsident eines nationalistischen Staates, der mit allen Seiten gut kann: mit Russland, dem Iran und, vor allem, mit der Türkei. Aserbaidschan setzte auf die verstärkte Ausbeutung und den Export der Öl- und Gasvorkommen des Landes, was Aserbaidschan vor allem in den 2000er-Jahren ein massives Wachstum des Bruttoinlandsprodukts bescherte.

Die US-Organisation Freedom House stuft das Land als autoritäres Regime ein. Wahlen seien weder frei noch fair, die Betätigung von politischen Parteien, Zivilgesellschaft und Presse werde durch Druck und Einschüchterung stark eingeschränkt. Korruption ist an der Tagesordnung. Der Begriff "Kaviar-Diplomatie" macht die Runde: Vor allem im Europarat agierten aserbaidschanische Lobbyisten sehr erfolgreich mit teuren Geschenken und Einladungen. Im Gegenzug wurde schon mal ein kritischer Bericht über politische Gefangene im Plenum abgelehnt oder eine offenkundig manipulierte Wahl einfach zur Kenntnis genommen. Laut den Enthüllungen aus den Pandora Papers 2021 hat die Familie Alijew im Ausland ein Privatvermögen im Wert von hunderten Millionen Dollar angehäuft.

Lob von der EU

Russland, eigentlich Schutzmacht Armeniens, umwirbt Aserbaidschan und vor allem die Türkei, die mit Aserbaidschan verbündet ist. Über die Türkei werden viele Waren nach Russland exportiert, unter Umgehung der westlichen Sanktionen. Aber auch die EU umschmeichelt Aserbaidschan. Statt aus Russland soll Gas jetzt aus Aserbaidschan kommen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war in Baku, lobte das Land als zuverlässigen Gaslieferanten. Da interessiert die humanitäre Katastrophe in Bergkarabach nur am Rande.

"Wir haben drei Tage am Hauptplatz von Stepanakert in Bergkarabach auf Busse gewartet, hatten Angst zu gehen, um sie nicht zu verpassen, obwohl wir in Stepanakert lebten", berichtet der 76-jährige Ararat Tananjan dem STANDARD von seiner Flucht. In Vayk ist er mit seiner Frau Jasmin und seiner Tochter Elina. Krieg kennen sie alle zur Genüge, auch seine beiden anderen Töchter. Sie leben in Charkiw, in der Ukraine.

Österreichs Fußballprofis haben von alldem wohl nur wenig mitbekommen, in Baku, nur 300 Kilometer entfernt. "Gemäß der derzeitigen Einschätzung der Sicherheitsbehörden übt die Situation in der Region Bergkarabach kaum Einfluss auf die Sicherheitslage im Rest des Landes, also auch in Baku, aus", hieß es in einer Stellungnahme des ÖFB. (Jo Angerer aus Eriwan, 17.10.2023)