"Der Maler Aja Iskander Schmidlin" wurde aus 13 übereinandergelegten Negativen gebastelt.

So verschieden die Phasen des Werks von René Groebli auch sein mögen, all seine Bilder eint eine gewisse Dynamik. Da sieht man einen im freihändigen Fahren von oben fotografierten Fahrradlenker. Oder einen Zug, wie er sich verschwommen einem Tunnel nähert, und auch Groeblis Frau Rita, halb angezogen im Bett eines Pariser Hotelzimmers. Gezeigt werden Bilder, die sein Werk zwischen den 1940er-Jahren bis Ende der 1970er abdecken. Groeblis Leitmotiv ist die Bewegung, nicht nur in visueller Form, sondern auch als innere Haltung in seinem Schaffen.

Poetische Bewegungsunschärfe

Im Zentrum der Ausstellung im Westlicht stehen zwei Schwarz-Weiß-Frühwerke des heute 96-jährigen Züricher Fotografen. Zum einen wäre das sein 1949 erschienenes Fotobuch Magie der Schiene, in dem auch seine cineastische Veranlagung sichtbar wird. In 15 Bildern begleitet man darin eine dampfende Eisenbahn, die Bilder sind verschwommen und entziehen sich den damals üblichen ästhetischen Konventionen. Fast hört man das Zischen, man riecht die Kohle durch das Fotopapier. Unweigerlich erinnert einen Groebli – der ausgebildeter, aber niemals praktizierender Dokumentarfilm-Kameramann ist – an den französischen Stummfilm Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat der Brüder Lumière, der 1896 in die Filmgeschichte einging.

"Fahrradlenker" ist 1946 entstanden und eines der bekanntesten frühen Bilder von René Groebli.

Eine andere zentrale Arbeit ist Das Auge der Liebe, bei dem er seine Frau Rita 1954 auf der gemeinsamen Hochzeitsreise in Paris fotografierte. Man sieht sie sich schminkend, er fotografiert ihren Nacken, das verknitterte Bett, in dem noch die Abdrücke zweier Körper zu sehen sind. Ein gutes Bild erzählt immer eine Geschichte, aber in einer Fotoserie wird die Geschichte erzählt, die zwischen den Bildern stattfindet. Diese beiden in Eigenregie verlegten Bücher wurden bei Erscheinen kaum beachtet – heute gelten sie als Meilensteine der Fotogeschichte. Mit nur 26 Jahren war Groebli 1955 bereits in Edward Steichens legendärer Ausstellung The Family of Man im Museum of Modern Art in New York zu sehen.

Der Tüftler

Nach einem kurzen Ausflug in den Fotojournalismus und Aufträgen für Magazine wie Life, Picture Post und Stern wandte sich Groebli früh der in künstlerischen Kreisen noch verpönten Farbfotografie zu. Die Popkultur wurde in den 1960ern bunt, aber in der Fotografie galt noch immer Schwarz-Weiß als ästhetisch erhaben. Durch knallige Farben und ungewöhnliche Lichtspielereien brachte auch in seine Auftragsarbeiten, zum Beispiel für einen Automobilkonzern, eine künstlerische Qualität in seine Bilder. Dass er ein Tüftler ist, sieht man auch am 1970 entstandenen Der Maler Aja Iskander Schmidlin, in dem 13 einzelne Negative ineinandermontiert wurden.

In der umfangreichen Retrospektive gelingt es, die verschiedenen inneren und äußeren Wahrnehmungen eines großen Fotokünstlers abzubilden. Die einzelnen Schaffensphasen unterscheiden sich teils so stark, dass es sogar schwerfällt, sie demselben Künstler zuzuordnen. Eines haben sie aber alle gemeinsam: den sensiblen Blick auf Bewegendes. (Jakob Thaller, 9.4.2024)