Lia Thomas Schwimmerin
Für "Sports Illustrated" ist sie "die am kontroversesten diskutierte Athletin der Vereinigten Staaten". Bis 2019 schwamm Lia Thomas in Männerbewerben, dann begann sie geschlechtsangleichende Maßnahmen. 2022 gewann Thomas über 500 Yard Freistil als erste Transgender-Schwimmerin einen College-Meistertitel. In 4:33,24 Minuten verwies sie Emma Weyant, die 2021 mit der US-Staffel olympisches Silber geholt hatte, auf Rang zwei.
AP/Chris Szagola

"Wir fordern das IOC auf, seine Empfehlungen neu zu bewerten, damit ein umfassendes Verständnis der biologischen Vorteile der männlichen Entwicklung einbezogen wird, um Fairness und Sicherheit im Frauensport zu gewährleisten." So heißt es in einer von 26 Wissenschaftern und Wissenschafterinnen im "Scandinavian Journal of Medicine and Science in Sports" publizierten Studie. Die 26 stoßen sich daran, dass das Internationale Olympische Comité seinen Mitgliedern, also den Weltsportverbänden, nahegelegt hatte, grundsätzlich "keinen Vorteil" von Transgendersportlerinnen zu vermuten, die an Frauenbewerben teilnehmen wollen.

Damit mache es sich das IOC (zu) einfach, lässt sich die Kritik zusammenfassen. Denn es ignoriere "den permanenten Vorteil", den eine männlich durchlaufene Pubertät im athletischen Bereich mit sich bringe. Diverse Studien würden zeigen, dass Transgenderfrauen selbst "mit unterdrücktem Testosteron im Vergleich zu Frauen Muskelmasse, Kraft und andere körperliche Vorteile behalten. Männliche Leistungsvorteile können nicht durch Testosteronunterdrückung beseitigt werden." Conclusio: "Der Sport steht vor der unangenehmen Realität, dass die Aufnahme von Transgender-Frauen in Frauensportkategorien nicht mit Fairness und in manchen Fällen auch nicht mit Sicherheit für Frauen in athletischen Sportarten vereinbar ist."

Das Muskelwachstum

Wie das IOC die Realität wirklich beurteilt, ist schwer einzuschätzen. Tatsache ist, dass es sich mit einer echten Entscheidung auch in dieser Frage so lange Zeit gelassen hat, dass einzelne große Sportverbände längst vorgeprescht sind. Der internationale Schwimmverband World Aquatics war die erste große Organisation, die strikte Regeln für Transgenderpersonen im Spitzensport aufgestellt hat. In einer männlich durchlaufenen Pubertät, lautete die Begründung, steigern die Hoden die Produktion von Testosteron, das unter anderem Muskeln wachsen lässt. Daraus würde Transgendersportlerinnen ein permanenter Wettbewerbsvorteil erwachsen.

Nicht nur Weltverbände wie jene in der Leichtathletik (World Athletics), im Radsport (UCI) und im Cricket, sondern etwa auch der Schachweltverband (Fide) führten bald darauf ganz ähnliche Regeln ein. Diese bedeuten einen De-facto-Ausschluss von Transgendersportlerinnen, schließlich müsste eine Geschlechtsumwandlung bereits vor der Pubertät vollzogen worden sein.

Laurel Hubbards Testosteronwert

Als erste Transgenderathletin hat 2021 in Tokio die neuseeländische Gewichtheberin Laurel Hubbard an Olympischen Spielen teilgenommen, sie scheiterte mit drei Fehlversuchen. Hubbard (46) hatte bis zum Alter von 23 Jahren Männerbewerbe bestritten, sich mit 34 einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen, bald darauf trat sie in Frauenbewerben an. 2017 holte sie eine WM-Silbermedaille. Zuvor hatte sie ein Jahr lang nachweisen müssen, dass ihr Testosteronwert unter den damals vorgeschriebenen zehn Nanomol pro Liter Blut lag. Diese Marke hielten viele Fachleute für deutlich zu hoch, sie wurde später auf 2,5 Nanomol pro Liter Blut gesenkt. Ähnliche Werte galten eine Zeitlang auch in anderen Sportarten, etwa im Schwimmen und in der Leichtathletik, bevor diese nun praktisch generell einen Riegel vorschoben.

Proteste gegen Schwimmerin Lia Thomas
Beim Finale der College-Meisterschaften 2022 in Atlanta, wo Thomas als erste Transgender-Schwimmerin einen Titel holte, kam es im Publikum zu Protesten.
AP/John Bazemore

Lia Thomas (24) ist eine, die diesen Riegel bekämpft und sich das Recht erstreiten will, an internationalen Bewerben teilzunehmen. Sie träumte, nachdem sie im März 2022 als erste Transgender-Schwimmerin einen College-Titel geholt hatte, von einer Olympiateilnahme. Thomas, die ihre Transition erst nach dem 19. Geburtstag durchlief, sah sich wiederholt Angriffen von anderen Schwimmerinnen, deren Eltern, Funktionären und sogar Politikern ausgesetzt. Floridas republikanischer Gouverneur Ron DeSantis erkannte ihr in einer symbolischen Erklärung ihren Titel ab und warf der National Collegiate Athletic Association (NCAA) vor, den Frauensport zu zerstören. Thomas sagt, sie könne mit Menschen nichts anfangen, die zwar vorgeben, sie als Transfrau zu akzeptieren, ihr aber gleichzeitig Unfairness vorwerfen. "Das geht sich für mich nicht aus."

"Nicht notwendig, nicht angemessen"

Bereits im Vorjahr hat Thomas den internationalen Sportgerichtshof CAS in Lausanne angerufen, ihre Causa ist zufällig der exakt 10.000. Fall, mit dem sich der 1984 gegründete CAS auseinandersetzt. Das tut er seit September, doch ein Urteil ist nicht abzusehen, bis dato wurden noch nicht einmal Termine für Anhörungen fixiert. Thomas hat beantragt, der CAS möge die Transgendersportlerinnen betreffenden Regeln des Weltschwimmverbands für "rechtswidrig und ungültig" erklären. Sie akzeptiere, dass "fairer Wettbewerb ein legitimes sportliches Ziel" sei und dass Regeln für Transgenderfrauen im Schwimmen angebracht seien. Aber der De-facto-Ausschluss würde sie "diskriminieren" und der Olympischen Charter, den Statuten von World Aquatics sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention zuwiderlaufen. "Diese Diskriminierung", argumentiert Thomas, "kann nicht damit, dass ein legitimes sportliches Ziel erreicht wird, als notwendig, angemessen oder verhältnismäßig gerechtfertigt werden."

Das sehen die großen Sportverbände anders. "Wenn wir jemals so weit in die Ecke gedrängt werden, dass wir ein Urteil über Fairness oder Inklusion fällen müssen, werde ich immer auf die Seite der Fairness schwenken", hat sich World-Athletics-Präsident Sebastian Coe festgelegt. Rückenwind bekommt er von den 26 Wissenschafterinnen und Wissenschaftern, die das IOC kritisieren. Sie bekrittelten nicht zuletzt, dass das IOC, als es dem Weltsport in der Transgenderfrage den Weg weisen wollte, just die größte "Stakeholder"-Gruppe in seine Überlegungen nicht mit einbezogen habe, nämlich die Sportlerinnen. Um genau zu sein: die Sportlerinnen, die eine weibliche Pubertät durchliefen oder durchlaufen. (Fritz Neumann, 10.4.2024)