Psychiatrische Gerichtsgutachterin Heidi Kastner
"Der Staat will nicht, dass Zwölfjährige straftätig sind und das bis zur Mündigkeit unverändert machen. Darauf können wir uns hierzulande auch einigen", sagt die psychiatrische Gutachterin Heidi Kastner.
Philipp Horak / Heid Kastner

Die Psychiaterin Heidi Kastner ist seit 30 Jahren in der Forensik tätig. Bekannt wurde sie durch ihre Gutachten in Gerichtsprozessen zur Causa Josef Fritzl oder den Missbrauchsfällen im Stift Kremsmünster. Dabei sind ihre Bewertungen ausschlaggebend dafür, ob Straftäterinnen oder Straftäter in den Maßnahmenvollzug kommen. Zudem ist die 61-Jährige die Leiterin der Klinik für Psychiatrie mit forensischem Schwerpunkt am Kepler-Universitätsklinikum in Linz.

STANDARD: Sie sehen oft Menschen, die nach schrecklichen Verbrechen vor Gericht stehen. Müssen Sie sich darauf mental vorbereiten?

Kastner: Ich lebe seit 30 Jahren in der Forensik und muss vor einem Gespräch keine Yoga-Übung machen. Bis zu einem gewissen Grad gewöhnt man sich daran. Ein Onkologe, der täglich Krebspatienten sterben sieht, wird auch nicht bei jedem weinen – so kann man den Job nicht machen. Mord und Totschlag sind mein beruflicher Alltag. Das habe ich mir so ausgesucht.

STANDARD: Wie kommt es dazu, dass sich Menschen Ihnen anvertrauen?

Kastner: Die Leute wollen einerseits ihre Version der Geschehnisse erzählen. Andererseits haben sie meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Es kommt kaum vor, dass jemand für ein psychiatrisches Gutachten nicht mit mir sprechen will. Denn dadurch haben die Leute auch die Möglichkeit, ausführlich über die eigene Person zu sprechen – das passiert selten.

Ich sehe beispielsweise Menschen, die seit zehn Jahren verheiratet sind, aber mir am Ende des Gesprächs sagen, dass sie nie so ausführlich über sich geredet haben. Da fragt man sich, worüber die mit ihren Partnern reden. Viele haben soziale Kontakte, aber keine Beziehungen. Das passiert, wenn man kein Interesse an anderen hat oder immer das Gefühl hat, eine Rolle spielen zu müssen.

STANDARD: Haben Sie einen Fragenkatalog?

Kastner: Nein, denn Menschen sind keine Pappschachteln, die man nach demselben Muster falten kann. Ich muss immer darauf eingehen, wie jemand dasitzt. Die Betroffenen sind in einer schwierigen Situation, und es herrscht erstmal eine Grundanspannung. Da will ich niemandem einen starren Katalog vorbeten. Um aufzulockern, frage ich manchmal unverfänglich: "Wie haben Sie heute Nacht geschlafen?" Ich kann ja nicht gleich fragen: "Warum haben Sie ihn umgebracht?"

Ich sage am Anfang aber immer, wer ich bin und warum ich da bin und dass sie das Gutachten verweigern können. Ganz wichtig ist, zu sagen, dass alle Dinge, die wir besprechen, auch ins Gutachten kommen.

STANDARD: Warum ist das so wichtig?

Kastner: Es kommt immer wieder vor, dass jemand sagt: "Das erzähle ich Ihnen, aber Sie schreiben es nicht rein." Ich bitte die Leute dann, dass sie es mir lieber gar nicht erzählen sollten. Ich mache mich nicht zur Verbündeten oder Komplizin des Probanden. Ich bin neutral, und wir haben keine private Beziehung.

STANDARD: Was machen Sie, wenn jemand lügt?

Kastner: Zuerst lasse ich die Menschen reden. Wenn sie mit ihrer Erzählung fertig sind, stelle ich meine Fragen. Wenn jemand zum Beispiel angibt, vor der Tat Benzos und Kokain eingenommen zu haben, aber der toxikologische Befund zeigt, dass im Blut keine der Substanzen war, konfrontiere ich sie damit.

STANDARD: Was, wenn kein Befund über die Blutwerte vorliegt und jemand behauptet, Drogen zu sich genommen zu haben?

Kastner: Die Frage der Zurechnungsfähigkeit ist bei Substanzen die Frage danach, wie beeinträchtigt die Person war. Konnte die Person nicht mehr Recht von Unrecht unterscheiden oder das eigene Verhalten nicht mehr steuern? Wenn ich im Akt sehe, dass eine überlegte Handlung auf die andere folgt, zeigt das, dass die Person imstande war, über die Sache nachzudenken. Wer sich über einen Fluchtweg oder eine Ausrede Gedanken machen kann, kann auch überlegen, ob man jemanden umbringt oder nicht.

STANDARD: Wie gehen Sie mit Simulanten um, wenn beispielsweise jemand angibt, Stimmen zu hören, aber in Wahrheit zurechnungsfähig wäre?

Kastner: Es kommt öfter vor, dass Menschen gleich zu Beginn sagen: "Ich sag’s Ihnen gleich, ich bin nicht zurechnungsfähig, ich habe eine Stimme gehört." Ich sage dann: "Schön, dann fühlen Sie sich nicht so alleine." Aber es ist mir völlig egal, ob jemand sagt, dass er oder sie Stimmen hört. Das Hören von Stimmen ist kein Leitsymptom einer Schizophrenie. Das kann man nicht belegen. Wenn die Person nicht eine bestimmte Konstellation an Symptomen zeigt, ist Stimmenhören alleine nicht ausschlaggebend.

STANDARD: Wie erkennt man einen Psychopathen?

Kastner: Der Mensch wird eine Schneise der Verwüstung durch die Beziehungslandschaft ziehen. Ab 15 oder 16 Jahren wird er oder sie immer wieder manipulieren, Leute anlügen, ausnutzen, keine Verantwortung übernehmen, keine Verbindlichkeiten einhalten, sich immer mit irgendwelchen Lügengeschichten aus der Affäre ziehen und eigene Arbeit vermeiden. Die Person macht sich keine Gedanken darüber, wie es anderen mit ihrem Verhalten geht. Das ist eigentlich eine Beziehungsstörung – dieses Scheitern im beruflichen, im freundschaftlichen, im familiären Kontext aufgrund eines immer gleichen Verhaltens.

Ich stelle mir manchmal vor, wie das sein muss, sich vor nichts zu fürchten, mich nie zu schämen, immer überzeugt zu sein, dass ich auf den eigenen Beinen lande. Wie viele Sorgen, Ängste und schlaflose Nächte könnte man sich dadurch ersparen? Ich würde mir das selbst nicht wünschen, aber denke mir, dass es für den Betroffenen selbst toll sein muss. Für die Mitmenschen ist es schlimm.

STANDARD: Wie wirkt sich dieses Verhalten auf das Gespräch aus?

Kastner: Wenn jemand, der psychopathisch ist, nicht versucht, mich an der Nase herumzuführen, stimmt etwas mit der Diagnose nicht. Gegen Lügen hilft es nur, den Akt gut zu kennen. DNA-Spuren bei einer Leiche lassen sich nicht wegdiskutieren. Wenn ich jemanden mit so einer Persönlichkeitsstörung beim Lügen auffliegen lasse, finde ich es teilweise faszinierend, wie behändig und ohne Scham sie mir dann sofort die nächste Geschichte auftischen: "Ah, das haben Sie falsch verstanden, das habe ich ganz anders gemeint", und schon kommt die nächste Lüge. Die meisten Menschen, die zu mir zur Begutachtung kommen, sind aber keine Psychopathen.

STANDARD: Wie oft begegnen Sie Narzissten?

Kastner: Dieser Begriff wird so sorglos herumgeschmissen. Auf einmal sind ganz viele mit einem Narzissten verheiratet, oder der Vorgesetzte ist ein Narzisst. Dieses küchenpsychologische Rumdiagnostizieren finde ich grottig.

STANDARD: Welche Muster gibt es bei diesen Menschen?

Kastner: Das ist jemand, der seit der Pubertät alle Beziehungen nach demselben Muster begeht. Nach dem Motto: "Ich bin der Größte und Schönste von allen und mir stehen unermesslicher Erfolg und Bewunderung zu." Wenn jemand dem Narzissten diese Bewunderung versagt, ist er zu Tode und auf ewig gekränkt, und er denkt, es steht ihm zu, diese Kränkung auszuleben. Wenn man etwas nicht erreicht, liegt das immer an den anderen, nie an einem selbst. Das ist, finde ich, viel unattraktiver. Wenn ich mir aussuchen müsste, ob ich lieber narzisstisch oder psychopathisch wäre, wäre ich lieber psychopathisch.

STANDARD: Die ÖVP erneuerte am Freitag ihre Forderung nach einer Senkung der Strafmündigkeit auf zwölf Jahre. Halten Sie das für sinnvoll?

Kastner: In vielen Belangen wird jungen Menschen eine frühere Reife bescheinigt. Junge Menschen gehen früher wählen, können früher den Führerschein machen, bekommen früher die Antibabypille verschrieben. Es ist dadurch schwer zu argumentieren, warum sich diese Entwicklung nicht im Strafrecht widerspiegeln sollte.

Ich beobachte, dass Jugendliche vor mir sitzen und auch schon vor dem 14. Lebensjahr sehr überlegt und gestanden straftätig sind. Die wissen, was sie tun. Der Drogenkonsum fängt früher an, so wie die Kriminalität. Ich glaube daher, eine Absenkung der Strafmündigkeit auf zwölf Jahre wäre angebracht. Es gibt bereits die Möglichkeit, diejenigen, die als nicht reif genug gelten, für strafunmündig zu erklären. Diese nutzt man auch jetzt schon bei Jugendlichen über 14 Jahren. Ich bin zwar für eine Senkung der Strafmündigkeit, halte es aber nicht für sinnvoll, Jugendliche ab zwölf ins Gefängnis zu stecken.

STANDARD: Welche Art der Intervention halten Sie bei straffälligen Jugendlichen dann für sinnvoll?

Kastner: Die Schweiz ist da vorbildlich. Dort kann man ab zehn Jahren für das, was man anstellt, gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden. Da gibt es staatliche Interventionen – nicht Sanktionen. Denn der Staat will nicht, dass Zwölfjährige straftätig sind und das bis zur Mündigkeit unverändert machen. Darauf können wir uns hierzulande auch einigen. Wir wollen nicht, dass jemand mit zwölf Jugendgangs gründet und andere überfällt. Niemand will das – auch nicht bei unter 14-Jährigen.

STANDARD: Aber bei unter 14-Jährigen wird auch in Österreich interveniert.

Kastner: Da sind wir beim Problem. Wie sieht diese Intervention aus? In der Schweiz läuft die nicht über Jugendämter, sondern übers Gericht. Trotz dieser früheren Strafmündigkeit landen unter 14-Jährige in der Schweiz kaum im Gefängnis. Es gibt dafür ein unglaublich breites Spektrum an vom Gericht angeordneten Maßnahmen. Ein maßgeschneidertes Maßnahmenpaket kann auch verpflichtend durchgesetzt werden. Die Schweiz hat beispielsweise geschlossene Jugendheime. Bei uns passiert es oft, dass ein 13-Jähriger in eine Wohngruppe gesteckt wird, praktisch aber nie da ist. Denn die Heime sind offen. Niemand weiß, wo die oder der Jugendliche ist oder mit wem er oder sie sich rumtreibt. Die gondeln herum und hocken in irgendwelchen Wohnungen.

Das beste pädagogische Konzept wird mir nichts bringen, wenn diejenigen, an denen ich es anwenden will, nicht da sind. Ich würde mir daher wünschen, dass die Kompetenz der Anordnung vom Strafrecht kommt und dort mit größter Sorgfalt und einem breiten Spektrum an Maßnahmen umgesetzt wird. Aber das würde viel mehr Arbeit für die Gerichte bedeuten. Und man müsste endlich von der eigenen dogmatisch begründeten Position abrücken. (Isadora Wallnöfer, 20.4.2024)