Schachgroßmeister Gukesh
Dommaraju Gukesh ist die Zeit ausgegangen.
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Toronto – Dommaraju Gukesh musste einem einfach leidtun. Eigentlich hatte er alles richtig gemacht. Sein Gegner in dieser siebenten Runde, der französische Hoffnungsträger Alireza Firouzja, war durch drei Niederlagen zuvor ans Tabellenende gerutscht – der ideale Moment für Gukesh, um nachzusetzen, die momentane Schwäche und Frustration seines Kontrahenten auszunutzen und mit Schwarz einen vollen Punkt einzufahren.

Es wäre der perfekte Moment dafür gewesen. Mit einem Sieg über Nicat Absasov war der erst 17-jährige Inder in Runde fünf mit dem bis dahin allein vorn liegenden Jan Nepomnjaschtschi gleichgezogen. Nun konnte er genau zu Halbzeit des Turniers allein in Führung gehen, und der angeschlagene Firouzja schien wenig Widerstand dagegen zu leisten. In einem Londoner System hatte der Weiße ausgangs der Eröffnung seinen a-Bauern für eher zweifelhafte Kompensation geopfert – oder eingestellt? Das Resultat war so oder so dasselbe: Ein Gukesh mit Bauernplus, der selbstbewusst spielte und die leichte weiße Initiative Zug um Zug leerlaufen ließ.

Zeit tut Not

Aber was ist das? Im 27. Zug lässt der junge Inder seinen stolzen Zentralspringer wie eine Granate auf f2 in die weiße Königsstellung krachen! Er spielt das Opfer, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, als hätte er das alles lange kommen sehen. Er spielt es vielleicht auch deshalb so siegessicher, weil Alireza Firouzja in diesem Moment nur noch wenige Minuten Bedenkzeit übrighat.

Kaum mehr Bedenkzeit zu haben, das heißt beim Kandidatenturnier mehr und anderes als bei den meisten anderen Schachturnieren unserer Zeit. Was in Toronto vor Zug 40 nämlich fehlt, weil es auch bei WM-Zweikämpfen nicht zum Einsatz kommt, ist das sogenannte Increment – ein Zeitbonus, meist sind es 30 Sekunden, der jedem Spieler bei Ausführung jedes Zuges durch Drücken der Schachuhr automatisch gutgeschrieben wird und so die Grundbedenkzeit ergänzt.

Die Umsetzung dieser einst von Bobby Fischer ersonnenen Idee, die sich naturgemäß nur mit elektronischen Uhren verwirklichen lässt, hat das Turnierschach in den letzten zwei Jahrzehnten stark verändert. Insbesondere junge Spieler kennen die alles konsumierende Zeitnot kaum mehr, in die inzwischen alt gewordene Meister mitunter rettungslos drifteten, wenn sie zu früh zu viel von den zwei oder zweieinhalb Stunden ihrer an sich üppig bemessenen Grundbedenkzeit verbraucht hatten.

Sieben auf einen Streich

In Toronto ist es der Kommentator und ehemalige ungarische Weltklassemann Péter Lékó, der dazu eine schöne Anekdote zum Besten gibt: Er erinnert sich, wie Ex-Weltmeister Anatoli Karpow, bekannt für seine unerschütterliche Ruhe am Brett, gegen ihn einmal sieben Züge in nur sechs Sekunden auszuführen hatte, das Ganze natürlich in horrend komplizierter Stellung. Wie es Lékó rein physisch unmöglich erschien, dass Karpow das noch schaffen könnte. Und wie Karpow die Aufgabe nicht nur stoisch bewältigte, sondern dabei auch siebenmal den besten Zug spielte und Lékó damit ins Remis entkam.

Solche Geschichten werden nur ohne Increment geschrieben, und wohl deshalb hat die Fide vor Jahren beschlossen, im WM-Zyklus auf diesen Zeitbonus wenigstens bis Zug 40 zu verzichten. Mehr Zeitnotschlachten heißt mehr Drama für Spieler und Publikum – und das schadet im live in alle Welt übertragenen Spitzensport bekanntlich nie.

Ein teuflischer Plan

An diesem Donnerstagnachmittag in Toronto sind Alireza Firouzja und Dommaraju Gukesh die Protagonisten dieses Dramas. Zuerst blitzt Firouzja eine Reihe präziser Verteidigungszüge heraus, mit denen er nach Gukeshs Springeropfer den sofortigen Kollaps seiner Stellung vermeidet und Damentausch erzwingt. Das wiederum führt dazu, dass Gukesh etwas Zeit verbraucht, um sich neu zu orientieren: Er hat drei Bauern für die geopferte Leichtfigur, genau so viel, wie er laut Lehrbuch als Äquivalent benötigt. Aber soll er nun seine Lage konsolidieren oder auch im Endspiel weiter auf den Sieg losgehen, der ihn in Führung brächte?

Gukesh entscheidet sich für Letzteres – aber er entscheidet sich zu spät. Zwar hat Firouzja zu diesem Zeitpunkt, inzwischen schreiben wir Zug 35, nur noch knapp eine Minute Bedenkzeit, aber auch Gukesh hat deren nur noch etwas mehr als zwei. Und der Franzose hat, nein, er findet plötzlich einen teuflischen Plan. Ganz ohne Damen zieht Firouzja unvermutet einen brutalen Königsangriff mit Springer und zwei Türmen gegen den in der Brettecke herumlungernden schwarzen Monarchen auf. Ein Horrorszenario für Gukesh, der gerade seinen a-Freibauern flottmachen wollte und dem nun die Sekunden davonticken, während er sich der unerwarteten Attacke zu erwehren sucht.

Die Zeit, sie reicht dafür einfach nicht mehr. Nach Firouzjas mit nur noch ein paar Sekunden auf der Uhr ausgeführtem 40. Zug gibt Gukesh in höchster Verzweiflung auf – er würde im 41. peinlichst matt gesetzt. Der indische Teenager vergräbt seinen Kopf in den Händen, bleibt auch nach Handshake und Unterzeichnung des Partieformulars noch lange am Brett sitzen, starrt ins Leere, kann es einfach nicht fassen.

Alireza Firouzja dagegen, mit seinen 20 Jahren im Verglich zu Gukesh fast schon ein Routinier und mit Designerbrille und schickem Sakko eindeutig der eleganteste unter den Teilnehmern in Toronto, übt sich in Coolness: Dreimal hat er hier schon verloren, an diesem Tag hat er die vierte Niederlage in den ersten Sieg gedreht. Das ist nicht viel in einem Turnier, in dem nur der erste Platz zählt. Aber es ist ein wenig Genugtuung. Und jeder Schachspieler liebt es, verlorene Stellungen noch zu gewinnen.

Nur nichts riskieren

Jan Nepomjnaschtschi hat sich zu diesem Zeitpunkt mit Hikaru Nakamura bereits auf Remis geeignet. Durch Gukeshs Niederlage liegt bei Halbzeit nun wieder der Russe allein mit 4,5 aus 7 in Führung, seine Turnierstrategie scheint ein weiteres Mal perfekt aufzugehen: Die beiden Co-Favoriten Caruana und Nakamura remisierte Nepo in den Runden sechs und sieben erfolgreich ab, auch dem Ansturm des jungen Praggnanandhaa hatte er in Runde fünf mit einiger Mühe widerstanden. Solange sich die Jugend in den Partien untereinander gegenseitig aufreibt, braucht der Sieger der letzten beiden Kandidatenturniere gar nicht mehr zu riskieren.

Im Damenbewerb liegt parallel die Chinesin Tan Zhongyi mit 5 aus 7 allein in Führung. Am Samstag beginnt in beiden Bewerben mit Runde acht der zweite Umlauf, bei dem die Spieler mit vertauschten Farben gegeneinander antreten. (Anatol Vitouch, 12.4.2024)