Der Angriff des Iran auf Israel hat nicht nur den Nahen und Mittleren Osten "an den Rand des Abgrunds" geführt, wie UN-Generalsekretär António Guterres im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erklärte. Er hat über das Wochenende auch die politische Agenda der 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf den Kopf gestellt.

Diese treffen sich ab Mittwochabend in Brüssel zu einem außerordentlichen Gipfel in Brüssel. Im Zentrum der Beratungen werden nun aber nicht, wie geplant, die Wirtschaftspolitik und die Möglichkeiten der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit stehen. Stattdessen soll der Umgang mit dem Iran, Israel und den arabischen Ländern – und in der Folge auch mit den Kriegen in der Ukraine und in Gaza überprüft werden. Die EU-Außenminister befassen sich schon ab Dienstagabend mit der Frage, wie die Union deeskalierend einwirken könnte, um ihren Chefs entsprechende Vorschläge machen zu können.

Karl Nehammer will beim Gipfel auf die israelischen Geiseln hinweisen.
REUTERS/Leonhard Foeger

Es gelte, jetzt "Rationalität zu bewahren", erklärte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) dazu im EU-zuständigen Hauptausschuss des Parlaments. Er will wie schon vor vier Wochen beim EU-Gipfel in Brüssel vor allem darauf drängen, dass die Befreiung der von der Hamas nach wie vor festgehaltenen israelischen Geiseln und die klare Verantwortung der Islamisten für die Eskalation in Nahost seit vergangenem Herbst in der Schlusserklärung festhalten werden.

Sanktionen gegen den Iran

Zwischen den EU-Staaten hatte es dazu heftigen Streit gegeben, weil eine Erklärung die Hamas kaum erwähnte, aber relativ kritisch ausfiel, was die Verantwortung Israels im Gazastreifen betrifft. Nun ist nach dem ersten direkten Angriff des Iran auf Israel zu erwarten, dass die EU-Spitzen ihre volle Solidarität mit dem Land und der israelischen Bevölkerung zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig wird die Regierung in Jerusalem aber vor unüberlegten Schritten der Vergeltung gewarnt.

Was den Iran betrifft, tun sich die Europäer besonders schwer. Gegen das Land gibt es seit Jahrzehnten Sanktionen, die aber kaum Wirkung zeigten. Die Belieferung Russlands mit Drohnen im Krieg in der Ukraine und nun der Beschuss Israels haben gezeigt, dass der Iran offenbar problemlos in der Lage ist, sich militärisch aufzurüsten und in Konflikte einzugreifen. Die EU will daher das Sanktionenregime einer Prüfung unterziehen. Die Regierungschefs, die die Angriffe gegen Israel scharf kritisieren, werden dazu den Auftrag geben.

Neue Lage auch in der Ukraine

Nehammer wies darauf hin, dass sich die Bedrohungslage deutlich verschärft habe. Auch Österreich könnte davon betroffen sein, wenn an der EU-Außengrenze die Eskalation weitergehe. Der abgewehrte iranische Angriff durch eine militärische Zusammenarbeit von Israel, den USA, Großbritannien und Jordanien dürfte beim EU-Gipfel aber auch die Lage in der Ukraine in anderem Licht erscheinen lassen. Es hat sich gezeigt, dass Drohnen- und Raketenangriffe erfolgreich neutralisiert werden können, wenn die Mittel dafür bereitstehen, unter anderem Kampfjets der Nato.

Die Regierung in Kiew drängt seit Wochen darauf, dass die westlichen Partner mehr und schwerere Waffen, vor allem Raketenabwehrsysteme, liefern müssten. EU-Länder wie Dänemark oder die Niederlande wollen das Thema vorantreiben. Auch Frankreich hat seine Zurückhaltung abgelegt. Es ist davon auszugehen, dass Staatspräsident Emmanuel Macron neben der Lage in Nahost auch das Vorgehen in der Ukraine breiter thematisieren wird. (Thomas Mayer, 17.4.2024)