Anti-Israel-Propaganda in Teheran.
Anti-Israel-Propaganda in Teheran.
EPA/ABEDIN TAHERKENAREH

Nach der iranischen Eskalation am nahöstlichen Himmel, die viele in Israel und darüber hinaus am Wochenende schlaflos ließ, sind etliche Fragen offen. Die entscheidendste lautet auch drei Tage später zweifelsohne: Wie wird das israelische Kriegskabinett auf den Angriff des Iran auf sein Staatsgebiet reagieren? Zwar hat Israel den Vergeltungsschlag mithilfe seiner Verbündeten souverän abgewehrt, dennoch: Der Iran hat Israel erstmals direkt angegriffen – und das gleich mit rund 120 ballistischen Raketen, mehr als 30 Marschflugkörpern und 170 Drohnen.

Um es mit den Worten des deutschen Militärexperten Fabian Rene Hoffmann von der Universität Oslo zu sagen: "Auch wenn nur sieben Flugkörper israelisches Territorium erreicht haben: So viele ballistische Raketen auf einmal hat kein Land der Welt seit dem Zweiten Weltkrieg auf ein anderes abgefeuert", so Hoffman im STANDARD-Gespräch, der wie zahlreiche Beobachter überrascht vom Ausmaß des Gegenschlags war.

Video: Iran stellt Angriff auf Israel als vollen Erfolg dar.
AFP

Warum Israel auf den Gegenschlag pocht

Eine Reaktion Israels gilt als fix. Unklar ist nur, wann und wie sie erfolgt. Das Kriegskabinett hat am Montag bestätigt, dass es eine für den Iran "schmerzhafte Reaktion" geben wird, die jedoch keinen regionalen Krieg zur Folge haben werde. Ein heikles Unterfangen: Immerhin hat Teheran angekündigt, jeden israelischen Gegenschlag neuerlich mit einem direkten Angriff auf das Land zu vergelten. Premier Benjamin Netanjahu kündigte an, den Iran nun ebenfalls zittern lassen zu wollen. Die USA werde man aber rechtzeitig informieren. Seit Tagen rufen zahlreiche Regierungschefs die Konfliktparteien auf, die Eskalation nicht weiter zu verstärken. Die USA wollten Israel gar dazu bringen, von Vergeltung abzusehen und sich mit "dem Sieg zufriedenzugeben", den man durch das Abfangen des Angriffs errungen habe.

Der israelische Verteidigungsminister Joaw Gallant soll den USA jedoch bereits unmittelbar nach den Angriffen mitgeteilt haben, dass er nicht zulassen könne, dass ballistische Raketen ohne Gegenreaktion auf das Staatsgebiet abgefeuert werden. Aus militärischer Sicht bedeutet das laut Hoffmann, dass die israelischen Entscheidungsträger ein neues "Abschreckungsverhältnis" herstellen wollen. Das heißt: Man will dem Iran durch weitere militärische Schritte signalisieren, dass solche Angriffe nicht geduldet werden.

Hoffmann sieht dafür mehrere Möglichkeiten: In einer gemäßigteren Reaktion könnte Israel erneut iranische Stellvertreter in der Region (Stichwort: Hisbollah im Libanon) angreifen, anstatt das iranische Vorgehen zu spiegeln. Weitreichender wären dagegen Luftangriffe auf militärische Stellungen im iranischen Grenzgebiet, wobei eine solche Mission gefährlich für die ausführenden Kampfjets wäre. Einen Angriff gegen das Nuklearprogramm des Iran sieht Hoffmann als unwahrscheinlich. Dafür bräuchte es die volle Unterstützung der USA – und diese fehlt derzeit.

Israels Iron Dome
In Israel ist die Entscheidung, auf den iranischen Angriff zu reagieren, längst gefallen. Die Frage ist nur, wie.
AFP/MENAHEM KAHANA

Der Weg, den Israel nun wählt, wird nach Ansicht des Iran-Forschers Ali Vaez von der International Crisis Group entscheidend dafür sein, ob die Lage in Nahost aus dem Ruder läuft. Der Politikwissenschafter verweist auf die neuen "roten Linien" des Mullah-Regimes in Teheran: Dazu gehört ein israelischer Gegenschlag auf iranisches Staatsgebiet oder die Tötung weiterer Regimevertreter. "So ein Angriff wäre eine öffentliche Demütigung für den Iran, der Israel nach der Tötung des iranischen Generals Mohammad Reza Zahedi seine Grenzen aufzeigen wollte", sagt Vaez mit Blick auf die israelischen Angriffe auf immer ranghöhere Vertreter des iranischen Sicherheitsapparats im Schatten des Gazakriegs.

Es gäbe jedoch auch Gegenschläge, die die Iraner verkraften könnten – etwa verdeckte Sabotageoperationen gegen Militär- oder Nuklearanlagen. Vaez gehört zu jenen Experten, die den iranischen Angriff als "kalibriert" und in erster Linie als "gemäßigte" und "gesichtswahrende" Reaktion auf den tödlichen Konsulatsangriff sehen, mit dem Israel vor rund zwei Wochen die Eskalationsspirale gehörig angekurbelt hatte.

Demnach hätten Israel und die Verbündeten durch Warnungen Zeit für Vorbereitungen der Flugabwehr gehabt – ein Punkt, den vor allem London öffentlich in Abrede stellte. Das Mullah-Regime – das in der Heimat heftig unter Druck stand, sich gegen Israel zu wehren – habe nicht mit voller Macht angegriffen, sagt Vaez. Der Angriff, dem intensive diplomatische Bemühungen zur Deeskalation vorangegangen waren, sei für Israel leicht abwehrbar und damit auch leicht als Sieg zu verkaufen gewesen – ohne weitere Vergeltung.

Mehr als nur Signalwirkung?

Das Weiße Haus widerspricht dieser Lesart vehement. Das "spektakuläre und peinliche Scheitern" des Iran sei keineswegs beabsichtigt gewesen. Etliche Militärexperten, wie Hoffmann und auch Fabian Hinz, Experte für Raketensysteme und den Iran beim britischen Thinktank IISS, sehen das ähnlich: Die große Anzahl der Geschosse spreche keineswegs für einen symbolischen Angriff, sagt Hinz dem STANDARD. Ziel sei es gewesen, die Flugabwehr zu überwinden und Israel zu zeigen, dass man in der Lage sei, seinen Militäreinrichtungen Schaden zuzufügen – etwa dem Luftwaffenstützpunkt Nevatim, von dem aus der Jet, der Zahedi in Syrien getötet hatte, gestartet war. Das sei dank erfolgreicher Raketenabwehr jedoch gescheitert und damit möglicherweise auch die Fähigkeit des Iran, Israel von weiteren Angriffen abzuschrecken beziehungsweise "rote Linien" aufzuzeigen.

Denn Hinz hegt Zweifel daran, dass die Iraner viel weiter gehen können als bei ihrer Operation "Aufrichtiges Versprechen" vom Wochenende. Zwischen dem Iran und Israel liegen knapp 1.000 Kilometer Luftlinie. Das iranische Arsenal in Syrien, von wo aus die im Vergleich zu den Raketen relativ langsam fliegenden Drohnen einen kürzeren Weg gehabt hätten, sei infolge der israelischen Angriffe eingeschränkt. Und die Hisbollah dürfte Teheran angesichts der sehr realen Kriegsgefahr an der libanesischen Grenze nicht voll einsetzen wollen. Zudem sei eine kürzere Vorwarnzeit keinesfalls ein Garant für eine bessere Trefferquote auf iranischer Seite, meint Hinz mit Verweis auf Raketenangriffe der proiranischen Huthi-Rebellen im Jemen, die stets ohne Vorwarnung erfolgen und bisher immer abgewehrt wurden. Die Abwehrsysteme seien weitgehend automatisiert und darauf optimiert, extrem schnell zu reagieren.

"Man kann dennoch nicht sagen: Okay, das wird alles abgefangen, überhaupt kein Problem", widerspricht Hinz den Theorien über ein vorsätzliches Scheitern der Iraner aber vehement. Denn die Technologie der ballistischen, präzisionsgesteuerten Langstreckenrakete sei relativ neu. Es sei keineswegs vorauszusehen gewesen, dass die Raketenabwehr in 99 Prozent der Fälle funktioniert. Allein ein paar Prozentpunkte weniger hätten für Israel einen großen Schaden bedeuten können, sagt Hinz.

Mehrfache Schallgeschwindigkeit

Die Erfolgsquote der israelischen und amerikanischen Kampfjets vom Typ F-35, F-15E und F-16 ist aus Expertensicht jedenfalls beachtlich. Daran gab es lange Zweifel. So verfügen die US-Jets, die an der Seite der Israelis, Franzosen, Briten und Jordanier am Samstag in erster Linie Marschflugkörper vom Himmel holten, inzwischen über ausgezeichnete Sensoren, um Geschosse zu verfolgen. Sie dürften ungefähr die Hälfte der Drohnen abgeschossen haben.

Die mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit fliegenden ballistischen Raketen, die nur mittels bodengestützter Raketenabwehrsysteme und daher komplizierter abzufangen sind, haben indes die Israelis größtenteils selbst abgeschossen – mit dem Arrow-System, das auf Langstreckenraketen ausgerichtet ist. Das weiter im Hinterland aufgebaute israelische Raketenabwehrsystem David's Sling (zu Deutsch: Davids Schleuder) dürfte dank der Verbündeten, die mit Israel die meisten Drohnen und Marschflugkörper außerhalb Israels abfingen, dagegen kaum zum Einsatz gekommen sein. Gleiches gilt auch für Israels weithin bekannten Iron-Dome-Schutzschirm, der nur bei kurzen Reichweiten effektiv ist.

Unklar ist jedoch, wie groß das Arsenal der israelischen Abwehrraketen ist, sollten weitere iranische Schläge folgen. Die Abwehr von ballistischen Raketen funktioniert nämlich nur mit sehr speziellen Systemen. Die Ukraine, deren Situation aufgrund des Krieges mit der Atommacht Russland sonst kaum vergleichbar ist, hat laut Hinz gerade Probleme, die entsprechende Munition dafür in ausreichender Stückzahl zu bekommen.

Indes dürften die USA Israel erstmals mit ihrem Aegis-Kampfsystem, das auf US-Kriegsschiffen in der Region stationiert ist, bei der Luftabwehr zur Seite gestanden sein. Mehr als eine halbe Milliarde US-Dollar soll der rund fünfstündige Abfangeinsatz laut Analysten allein die israelische Armee gekostet haben – Abfangraketen sowie Arbeitszeiten und Sprit für die Abfangjets eingerechnet.

Unterstützung für Israel

Für Israels Partner dürfte der Einsatz ebenfalls kostspielig gewesen sein. Nach den Einschätzungen von dem an der Uni Oslo forschenden Hoffmann war ihre Hilfe für Israel sehr nützlich, jedoch militärisch nicht entscheidend. Israel hätte noch einiges an Luftabwehrkapazitäten übrig gehabt und den Angriff wohl auch allein erfolgreich abgewehrt. Aus Sorge vor einem großen regionalen Krieg habe Washington jedoch auch ein Eigeninteresse daran gehabt, dass der Schaden durch den Iran in Israel gering bleibt, so Hoffmann. Und auch für Israel sei es politisch durchaus nützlich, geeint mit arabischen Staaten gegen den Iran aufgetreten zu sein.

Wie genau die Abstimmung zwischen den Verbündeten ablief, unterliegt der Geheimhaltung. Bekannt ist jedoch, dass die Nato-Partner (also die USA, Großbritannien und Frankreich) ein Kommunikationssystem in ihren Waffensystemen eingebaut haben, das erlaubt, in Echtzeit Informationen und Daten auszutauschen. Darauf hat auch Israel als enger Verbündeter der USA Zugriff, so Hoffmann. Es sei durchaus vorstellbar, dass Israel, die USA und die anderen Staaten sich aber zusätzlich auch direkt über eingehende Raketen und Flugkörper absprechen und gemeinsam entscheiden, wer ausrückt. (Flora Mory, 16.4.2024)