Für Frühlingsgefühle bleibt den Menschen in der Ukraine dieser Tage kaum Muße. Zwar sind die Temperaturen in der Hauptstadt Kiew zuletzt in lichte Höhen geklettert. Statt Vogelgezwitscher und Kinderlachen bestimmen aber andere, bedrohlichere Geräusche den Alltag: das Zischen der Raketen, die Russland aktuell verstärkt gegen die Infrastruktur des leidgeprüften Landes einsetzt, das Dröhnen der Aufklärungs- und das kreissägenartige Zirren der Angriffsdrohnen. Auch an das Stakkato des MG-Feuers, mit dem die Armee versucht, die Drohnen abzuschießen, sind viele Ukrainerinnen und Ukrainer längst gewöhnt.

Immer öfter werden in diesem Frühling die ukrainischen Verteidigungsstellungen – und mit ihnen die verschanzten Soldaten – von russischen Gleitbomben ausradiert.
Helena Lea Manhartsberger

Weil den Verteidigern nach und nach die Luftabwehrmunition ausgeht, treffen Russlands Raketen – und neuerdings vor allem die besonders verheerenden Gleitbomben – in diesem Frühling immer öfter ihr Ziel. Sie zerstören Wärmekraftwerke und Wohnhäuser im Hinterland, aber auch die mühsam errichteten Abwehrstellungen an der 1200 Kilometer langen Front. Vor allem was die Luftabwehr betrifft, herrscht in der Ukraine nach zwei Jahren Krieg Mangelwirtschaft. Tag für Tag stehen heikle Entscheidungen an. Etwa ob zuerst die Einheiten an der Front geschützt werden sollen oder doch die Bevölkerung in den Städten. Christopher Cavoli, als Kommandant des European Command der oberste US-Militär des Kontinents, brachte das Dilemma am Mittwoch auf den Punkt: "Wenn der eine schießt und der andere nicht zurückschießen kann, verliert dieser."

Streitthema Patriots

Und auch in Kiew selbst werden von ganz oben immer harschere Töne angeschlagen. "Gebt uns die verdammten Patriots", appellierte Außenminister Dmytro Kuleba an die USA, der Ukraine lieber heute als morgen mehr Luftabwehrbatterien zu schicken. 26 Stück seien nötig, um das riesige Land effektiv zu schützen, erklärte Präsident Wolodymyr Selenskyj Anfang April, mindestens aber sieben. Freilich: Geliefert wurden bisher gerade einmal drei Patriot-Batterien, zwei aus Deutschland, eine aus den USA – von insgesamt mehr als 70 im Arsenal der beiden Länder. Am Samstag wurde bekannt, dass Deutschland der Ukraine eine dritte Patriot-Batterie liefern will. Trotzdem: Selenskyj warnte Mitte der Woche vor einer Niederlage seines Landes, sollten die US-Republikaner im Kongress das 60-Milliarden-Dollar-Hilfspaket weiter blockieren.

Ausgedünnte Reihen

Zudem gehen der Ukraine die Soldaten aus. Während Russland in den kommenden Monaten laut Schätzungen bis zu einer Dreiviertelmillion Mann mobilisieren kann, musste die überalterte ukrainische Armee – das Durchschnittsalter liegt bei 43 – ein Jahr lang darauf warten, dass sich die Politik zur unpopulären Senkung des Einberufungsalters durchringt. Weil sich immer weniger Ukrainer freiwillig melden, denkt man in Kiew nun auch laut darüber nach, Straftäter dienen zu lassen. Herbststimmung statt Frühlingsgefühle.

Ist die Ukraine gerade dabei, den Krieg zu verlieren? Und liegt es daran, dass der Westen nicht genug dagegen tut? Oder gar: nicht genug tun will? DER STANDARD hat sich bei Fachleuten umgehört.

Der Ukraine gehen die Soldaten aus.
Helena Lea Manhartsberger

"Wenn der Westen jetzt nicht schnell neue Waffen liefert, wird die Ukraine vielleicht schon im Sommer zurückweichen müssen", sagt zum Beispiel Markus Reisner. Der Analyst von der Theresianischen Militärakademie ist für seine grimmigen Prognosen bekannt. "Das bessere der beiden möglichen Szenarien sieht vor, dass die Ukraine sich nur so weit zurückzieht, dass sie besser geschützt den Vormarsch der Russen so lange verzögern kann, bis neue Hilfe kommt, etwa nach der US-Wahl. Im schlimmeren Szenario gelingt es den Russen, bis zum Dnjepr durchzubrechen."

Alexander Graef vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg hält eine territoriale Eroberung der gesamten Ukraine durch Russland zwar für nicht realistisch. Dass die Ukraine diesen Krieg trotzdem verliert, sei aber nicht auszuschließen: "Russland dürfte versuchen, die Fähigkeit der Ukraine zur strategischen Kriegsführung so weit zu reduzieren, dass sie ihre Ziele aufgeben muss, etwa die Rückeroberung der besetzten Gebiete."

Schwächen und Mängel

Der österreichische Militäranalyst Franz-Stefan Gady, der unter anderem für das Institute for International Strategic Studies (IISS) in London forscht und erst im März die Front besucht hat, gibt sich weniger pessimistisch: "Basierend auf unseren Recherchen hat die Ukraine derzeit noch genug Artilleriemunition, um eine defensive Strategie durchzuführen, für die sie zwischen 2000 und 3000 Schuss pro Tag braucht." Schwieriger werde es langfristig aber auf einem anderen, weit weniger beachteten Gebiet: Der Ukraine gehen die Ersatzrohre für die aus verschiedenen Ländern gelieferten Artilleriegeschütze aus. Die Folge: ungenaues Feuer, Rohrkrepierer. Dafür, so Gady, gebe es auch keine schnelle Lösung.

Ähnlich verhält es sich bei dem in seinen Augen weit dringlicheren Personalproblem. Kiews Bemühungen, neue Soldaten zu rekrutieren, hätten bisher schlicht nicht genug gebracht, sagt er. Freilich: Hier kann der Westen auch nicht wirklich weiterhelfen, ohne den "Tabubruch Bodentruppen" zu wagen. "Das Einberufungsalter wird weiter sinken müssen, um junges, fittes Personal für die Infanterieverbände zu bekommen, die man spätestens für Offensiven 2025 brauchen wird."

Russland nutzt die Schwächen und Mängel eiskalt aus. Ein Schreckensszenario wäre für Gady, wenn es irgendwann zu einem "Charkiw 2.0 unter umgekehrten Vorzeichen" komme, wie er es nennt: großflächige, schnelle Gebietseroberungen, wie sie der Ukraine im Herbst 2022 im Nordosten gelangen – nur diesmal durch Russland.

"Mit ihrer Zermürbungsstrategie gegen die ukrainische Luftabwehr wollen die Russen aktuell die Voraussetzungen für eine Offensive schaffen", vermutet Gady. Und das mit aller Gewalt. Etwa 3000 Gleitbomben – im Militärsprech Fab – haben Kiew zufolge russische Kampfjets allein im März abgeworfen. Die ausgedünnte ukrainische Luftabwehr ist dagegen weitgehend machtlos. "Die indirekte Evidenz in der Abschussrate zeigt, dass es bei der Flugabwehr Mängel gibt", sagt Gady.

Weiter hoffen auf Washington

Und was, wenn der Westen einfach nicht mehr liefern will? Der Hamburger Wissenschafter Graef glaubt das nicht: "Es gibt ja im Rahmen der Ramstein-Kontaktgruppe acht verschiedene, langfristige Initiativen, etwa zur Artillerie- und Drohnenbeschaffung. Die Schwierigkeit liegt darin, dass das, was die Ukraine gegenwärtig bräuchte, im Moment schlicht nicht in der Menge auf Lager ist."

Auch Gady glaubt nicht, dass die Ukraine den Krieg wegen fehlender Artilleriemunition verlieren wird. Noch bestehe schließlich durchaus Hoffnung, dass die US-Republikaner doch noch einlenken. "Wenn das Paket einmal beschlossen ist, kann die zusätzliche Munition durchaus auch innerhalb von Tagen oder Wochen an die Front kommen."

Bundesheer-Analyst Reisner, der die westliche Lieferpraxis seit vielen Monaten kritisiert, ortet einen Teil des aktuellen Problems nicht nur in der Masse, sondern auch in der Verteilung der Ausrüstung: "Die vom Westen gelieferten Waffen sind immer nur in kleinen Mengen und versetzt gekommen, sodass sie nie wirklich zusammenwirken konnten." Auch deshalb sei die Gegenoffensive verpufft, bevor die westlichen Waffen ihre Wirkung richtig entfalten konnten. Ohnedies sei bisher nicht einmal ein Drittel der zugesagten Ausrüstung geliefert worden, rechnete Selenskyj unlängst vor.

Kreative Lösungen

Und was könnte der Westen nun tun, um der Ukraine in ihrer Not zu helfen? "Über kurz oder lang ist es Moskaus entscheidender Vorteil, dass die ukrainischen Waffenproduktionsanlagen und die Logistikwege in Reichweite der russischen Raketen liegen, was umgekehrt trotz der zuletzt durchaus erfolgreichen Nadelstiche durch ukrainische Drohnen weit weniger gilt", gibt Graef zu bedenken.

Gady hat eine Idee, wie die Ukraine ihre Rüstungsbetriebe auch ohne weitere Patriot-Batterien schützen könnte: "Eine Möglichkeit wären Joint-Ventures auf Nato-Territorium, in denen ukrainische Betriebe auf polnischem oder bulgarischem Boden Drohnen oder gepanzerte Fahrzeuge produzieren." Dort wären sie jedenfalls vor russischen Raketen sicher. (Florian Niederndorfer, 14.4.2024)