Einst von der Sowjetunion als Beruhigungspille gedacht, bald schon Symbol für politische Unruhe:
Einst von der Sowjetunion als Beruhigungspille gedacht, bald schon Symbol für politische Unruhe: "Schwanensee", aufgeführt im Österreich-Pavillon von der ukrainischen Tänzerin Oksana Serheivea, nach einem Konzept von Anna Jermolaewa.
Markus Krottendorfer

Es sind schon seltsame Zeiten, in denen wir leben. Wir schreiben das Jahr 2024, und die Lagunenstadt Venedig mit ihrer einzigartigen Wirkung, das Gemüt hin zu Friedfertigkeit und Demut herunterzudimmen, liegt quasi auf halber Höhe zwischen zwei Kriegsschauplätzen. Es ist hier auch das Jahr der 60. Internationalen Kunstbiennale, die am kommenden Wochenende für das Publikum öffnet. Und nach Corona sowie dem vor zwei Jahren begonnenen Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine ist es die dritte Ausgabe in Folge, die von epochalen Ereignissen umklammert wird.

In Zeiten wie diesen stellen sich wie immer grundsätzliche Fragen: Was soll die Kunst noch? Was darf sie? Was muss sie? Und wie lässt er sich aushalten, der Widerspruch, die halbe Kunstwelt mit viel CO2-Ausstoß verbunden in eine vom steigenden Meeresspiegel bedrohte Stadt einzufliegen? Es sind dies natürlich schwer aufzulösende Fragen. Und nur in den seltensten Fällen ist die Antwort, einfach keine Kunst zu zeigen, vielleicht die richtige: Diese Option zieht diesmal Israel, das in seinem Pavillon erst dann etwas stattfinden lassen will, wenn der aktuelle Konflikt in einen Waffenstillstand und die Freilassung aller Geiseln mündet.

Keine Kunst ist auch (k)eine Lösung

Immerhin wurde Israel zahlreichen Boykottaufrufen zum Trotz die Teilnahme gestattet, dem Aggressor Russland richtigerweise nicht. Im österreichischen Pavillon, in den venezianischen Giardini nur eine Fußgängerbrücke von jenem Israels entfernt gelegen, beantwortet man die Frage nach der Sinnhaftigkeit so: Wann, wenn nicht jetzt, soll, ja muss, Kunst politisch sein, Position beziehen, sich nicht verstecken, verbiegen oder abwenden? Mit Anna Jermolaewa hat sich Kuratorin Gabriele Spindler für eine Künstlerin entschieden, die diese Haltung seit ihrer Jugendzeit lebt.

Die 1970 in Leningrad (heute Sankt Petersburg) als Tochter einer jüdischen Mutter Geborene revoltierte schon in der Sowjetzeit gegen die politische Unterdrückung. 1989 flüchtete sie über Polen in den Westen und wurde in Österreich heimisch. Ihre Fluchterfahrung fügt sich auch in das ausgegebene Biennale-Motto "Foreigners everywhere" (Ausländer/Fremde überall) – und das, obwohl bei Bekanntgebe des Titels Jermolaewas Teilnahme bereits fixiert war. Es zeugt also von feinem politischem Gespür und Timing, die in den letzten Jahren vielgefragte Künstlerin mit dem breitgefächerten Œuvre gerade jetzt nach Venedig zu berufen. Obendrein ist sie die erste nicht in Österreich geborene Biennale-Künstlerin und die erst zweite Frau, die den Pavillon solo bespielen darf.

Telefonzellen aus Traiskirchen

Der tolle Bau von Josef Hoffmann bleibt dank Jermolaewas installativer Werke diesmal großflächig sichtbar. Die Künstlerin überfrachtet nicht, sie zeigt konzentriert ein Werk pro Raum, thematisch ausgehend von ihrer eigenen Flucht bis in die politische Gegenwart. Im Innenhof Aufstellung gefunden haben sechs ausrangierte österreichische Telefonzellen aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen – und zwar exakt jene, von denen aus Jermolaewa selbst bei ihrem einmonatigen Aufenthalt in dem Auffangzentrum im Jahr 1989 ihrer Mutter zu Hause von der gelungenen Flucht in den Westen berichten konnte.

Für Jermolaewa erzählen vor allem die von Geflüchteten hinterlassenen Graffiti in den Zellen von jahrzehntelanger Fluchtgeschichte: "Pakistan", "Prishtina" oder "Tschetschnia problem" ist da zu lesen. Laut Telekom handelt es sich um jene Telefonzellen, von denen aus die meisten Auslandstelefonate in Österreich geführt wurden – und dieses begehbare Readymade im Pavillon funktioniert sogar hier, Telefonate sind möglich und gestattet. Bei ihrer Flucht gemeinsam mit ihrem damaligen Partner, dem ukrainischen Künstler Wladimir Jeremenko, musste Jermolaewa nächtelang am Wiener Westbahnhof auf einer Bank schlafen. In einer Videoarbeit von 2006 hat die Künstlerin diese Episode noch einmal durchgespielt.

Symbol für viele Fluchtgeschichten, auch jene Anna Jermolaewas: Telefonzellen aus dem Flüchtlings-Auffanglager Traiskirchen.
Symbol für viele Fluchtgeschichten, auch jene Anna Jermolaewas: Telefonzellen aus dem Flüchtlingsauffanglager Traiskirchen.
Markus Krottendorfer

Ihr Talent, politische Inhalte mit Witz und Ironie zu verkaufen, stellt Jermolaewa im Pavillon ebenfalls unter Beweis: Mit der Arbeit Ribs erinnert sie an kreative Umgehungsstrategien, mit denen sich Menschen in Unterdrückungssystemen ein kleines bisschen Freiheit im Privaten zurückholen. So wurden in der Sowjetunion Schallplatten mit verbotener Westmusik (Rolling Stones, Beatles, Elvis) heimlich auf Röntgenbilder als Trägermaterial übertragen. Einmal pro Tag wird eine solche "Platte" (vielmehr Folie) im Pavillon live abgespielt. Nicht zu laut, denn im Raum nebenan lullt die Besuchenden eine Klavierfassung des Ballettklassikers Schwanensee den ganzen Tag über so richtig ein.

Und das ist beabsichtigt. Jermolaewa will daran erinnern, dass in der Sowjetunion im Staatsfernsehen immer dann Schwanensee in Endlosschleife gesendet wurde, wenn es gerade einen Regimewechsel oder politische Unruhe im Land gab. Aus der Propaganda-Beruhigungspille wurde so über die Jahrzehnte ein Signal der politischen Bewegtheit, das Jermolaewa nun freilich in Richtung Putin umdeuten will. Der Diktator muss weg, sagt die Künstlerin ganz offen. Die jüngst nach Österreich geflüchtete ukrainische Balletttänzerin Oksana Serheieva, die zum ersten Mal im Kunstperformance-Kontext auftritt, tanzt dazu im Pavillon dreimal täglich für fünf Minuten Schwanensee live.

Blumen- und Farbrevolutionen

Jermolaewa versteht sich auf klare Symbolik, die – einmal dechiffriert – hängenbleibt. So auch in ihrer in Venedig ausgestellten und bislang letzten in Russland gezeigten Arbeit The Penultimate. Das Potpourri aus verschiedenen Blumensträußen, wobei jede Blumenart historisch zum Symbol einer Revolution wurde, zeigt, wozu Zivilgesellschaft fähig ist: von der portugiesischen Nelkenrevolution 1974 über die Orange Revolution in der Ukraine 2004 bis zur ägyptischen Lotusrevolution 2011. Was wünscht sie sich für Russland? "Vielleicht die Buchweizenblume", sagt sie. Aber wer sei sie denn, um so etwas vorzugeben, schiebt sie bescheiden nach.

Schöne Blumen, aber auch politisch: Anna Jermolaewa hat Blumen, die jeweils für eine bestimmte Revolution stehen, zusammengestellt.
Schöne Blumen, aber auch politisch: Anna Jermolaewa hat Blumen, die jeweils für eine bestimmte Revolution stehen, zusammengestellt.
Markus Krottendorfer

Man kann getrost festhalten: Mit Anna Jermolaewa liegt der Österreich-Pavillon diesmal goldrichtig. Politische Subversion, vermittelt mit Witz und Ästhetik, die man sogar schön finden darf, ohne als ignorant zu gelten. Und dass Jermolaewa die Kunst auch einmal bleibenlassen kann, hat sie übrigens auch bewiesen: Bei Ausbruch des Ukrainekriegs holte sie 34 Flüchtende "und einen Hund", wie sie sagt, von der Grenze ab – und half den Menschen so direkt. Vielleicht ist das sogar ihr größtes Werk. (Stefan Weiss aus Venedig, 17.4.2024)