Wien/Brüssel – Was genau Bundeskanzler Karl Nehammer mit seinem Ruf nach Deregulierung meinte, verriet der ÖVP-Obmann vor Beginn des zweiten EU-Gipfeltages am Donnerstag nicht. Verbrieft ist lediglich, dass es keinesfalls gemeinsame Schulden sein dürfen, wie sie in der Corona-Krise zu relativ hohen Zinsen aufgenommen wurden. Klar ist, dass es um die Banken- und Kapitalmarktunion geht. Diskutiert wird über eine solche Harmonisierung seit mehr als zehn Jahren, die konkrete Ausgestaltung und Umsetzung lassen allerdings auf sich warten.

Ein Schild mit dem EU-Sternenkranz in einem Einkaufswagen.
Warenaustausch innerhalb der Europäischen Union und Einheitswährung reichen nicht, der EU-Marktplatz braucht neue Regeln.
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Angesichts der schwachen Konjunktur und unterdurchschnittlich gefüllter Staatskassen könnte sich das nun ändern. Denn der EU-Binnenmarkt brauche einen Wachstumsplan, um die grüne Transformation, Investitionen in grenzüberschreitende Energie-, Straßen- und Bahnnetze anzukurbeln. Wifo-Chef Gabriel Felbermayr hält die Schaffung einer Kapitalmarktunion für zentral: "Fragmentierte Kapitalmärkte bedeuten, dass die Kapitalkosten in der EU höher sind als anderswo und die Erträge aus Investitionen kleiner. Auch die Innovationsfähigkeit des Finanzmarkts ist kleiner, detto die Fähigkeit, die Energiewende zu finanzieren."

Gemeinsamer Marktplatz

Ein weiterer Baustein für einen Kapital-Binnenmarkt wäre eine schlagkräftige Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) nach Vorbild der US-Börsen- und Finanzmarktaufsicht SEC. Derzeit ist die ESMA wohl für Anlegerschutz und Finanzmärkte zuständig, aber daneben gibt es die Europäische Bankenaufsicht EBA, die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA), den Europäischen Ausschuss für Systemrisiken (ESRB) und natürlich die Europäische Kommission, die auch mitredet. Bei den Börsen ist man nicht ansatzweise so weit, es fehlt ein zentraler Marktplatz für die ganze EU. Stattdessen ist der Markt stark fragmentiert, es gibt 27 Königreiche mit nationalen Börsen. Nicht zu unterschätzen sind weiters das Steuer- und das Insolvenzrecht, die einen bisweilen ungesunden Wettbewerb unter den Mitgliedsländern begünstigen.

Der Wifo-Chef sucht Ängste vor einer Vereinheitlichung und Vertiefung des Binnenmarkts zu zerstreuen: Es gehe nicht um eine Nivellierung der Steuersätze nach oben oder unten, sondern um eine Vereinheitlichung des Steuerrechts.

Etappenziele

Es brauche jetzt keinen Paukenschlag, aber einen klaren Pfad mit "Milestones", die in den nächsten Jahren konsequent umgesetzt würden, sagt Wifo-Chef Felbermayr zum STANDARD. "Der Binnenmarkt ist das Kronjuwel der EU, sein volkswirtschaftlicher Nutzen ist groß." In Österreich liege er nach konservativer Schätzung bei knapp sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts – und er könnte deutlich größer sein, wenn es nicht hohe Hindernisse im innergemeinschaftlichen Handel mit Gütern und Dienstleistungen gäbe. Da die Globalisierung nicht mehr liefere, müsse der Binnenmarkt vertieft werden. Denn er sei der zentrale Trumpf – gerade in einer geopolitisch viel unfreundlicheren Welt.

Nicht minder groß ist der Druck bei der Energiemarktunion. Das spürt Österreich doppelt: Zum einen wurde die gemeinsame Strompreiszone mit Deutschland getrennt, was jährlich Mehrkosten in Milliardenhöhe verursacht, weil billiger Strom aus dem Norden nicht mehr über Polen durchgeleitet wird. Zum anderen belegt Deutschland die Durchleitung von Gas nach Österreich mit Extragebühren. Innereuropäische Regelwerke sind auch für den Strommarkt notwendig, die Leitungsinfrastruktur und gemeinsame strategische Reserven. (Luise Ungerboeck, 18.4.2024)