Leonie Schöler hat die Geschichten vergessener Urheberinnen recherchiert und darüber ein Buch geschrieben
Leonie Schöler hat die Geschichten vergessener Urheberinnen recherchiert und darüber ein Buch geschrieben.
Peter Rigaud

Sieben Oscars ergatterte der Film Oppenheimer über den "Vater der Atombombe". Eine Figur hat Christopher Nolan in seinem dreistündigen Historiendrama allerdings vergessen: die Physikerin Lise Meitner. Zusammen mit ihrem Laborpartner Otto Hahn und weiteren Wissenschaftern entdeckte sie die Kernspaltung und sorgte damit ungewollt für die Grundlage des Baus von Massenvernichtungswaffen. Als sie 1942 beim "Manhattan-Projekt" unter der Leitung von J. Robert Oppenheimer militärische Atomforschung betreiben sollte, sagte sie ab, sah aber nie Anerkennung für die ansonsten bahnbrechende Entdeckung. Den Nobelpreis erhielt ihr Kollege Hahn allein.

Dass wissenschaftliche Erfolge von Frauen oft kleingehalten oder nicht anerkannt wurden und Männer zum Profit verhalfen, hat seit 1993 einen eigenen Namen: Matilda-Effekt, benannt nach der Frauenrechtlerin Matilda Joslyn Gage. Beispiele wie das von Lise Meitner gibt es zuhauf. Einige davon hat Autorin Leonie Schöler in ihrem Sachbuch Beklaute Frauen zusammengetragen. Darin belegt die Historikerin und Journalistin, wie Frauen aus der Geschichte ausradiert wurden, und macht deren Leistungen sichtbar.

Folgenschwerer Datenraub

Der Titel ist Programm: Viele der vorgestellten Frauen wurden im wahrsten Sinn des Wortes beraubt. So auch die britische Biochemikerin Rosalind Franklin. Sie und ihr Doktorand Raymond Gosling trugen mit einer Röntgenaufnahme wesentlich zur Entschlüsselung der DNA-Struktur bei. Offiziell für den Nachweis der Doppelhelix bekannt und mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden hingegen die Wissenschafter James Watson, Francis Crick und Maurice Wilkins. Ohne Franklins Wissen sollen sie sich Einsicht in ihre Unterlagen verschafft, Daten gestohlen und ausgehend davon die "eigenen" Erkenntnisse veröffentlicht haben.

Bei der Preisvergabe im Jahr 1962 war Franklin bereits verstorben. Aus Leonie Schölers Sicht ist es aber fraglich, ob sie bei der Verleihung zu Lebzeiten bedacht worden wäre: "Sie war das Opfer einer Intrige, die auf Neid und Vorurteilen gegenüber Frauen in der Wissenschaft beruhte."

Herausfallende Gebärmutter

In ihrem ersten Sachbuch arbeitet Schöler die Geschichte neu auf, zieht mit locker-flockiger Sprache und vielen Begriffserklärungen schnell in die umfangreiche Recherche hinein und untermauert ihre Aussagen mit Statistiken. Selbiges macht sie auch auf ihren Social-Media-Kanälen und in Beiträgen für ZDF oder die Plattform Funk. Mit Beklaute Frauen entstand eine galgenhumorige, aber keine leichte Lektüre. In tragikomischen Anekdoten erfährt man zum Beispiel, dass Frauen erst seit 1972 an offiziellen Marathonläufen teilnehmen dürfen. Beim Langstreckenlauf könnte ja schließlich die Gebärmutter aus dem Körper fallen, so die Überzeugung.

Aus der Haut fahren könnte man, wenn einem die Bereicherung an fremden Leistungen in ihrer ganzen Unverschämtheit vor Augen geführt wird. Beispielsweise ist Elisabeth Hauptmann, die Schriftstellerin und Sekretärin Bertolt Brechts, lediglich für Übersetzungsleistungen, weniger für ihre Co-Autorenschaft an der Dreigroschenoper bekannt. Dabei ist das Stück laut manchen Einschätzungen zu 80 Prozent ihr Werk. Auch Einstein, Karl Marx oder Picasso bauten auf die Hilfe ihrer Gattinnen, Geliebten, Töchter, Musen oder Assistentinnen. Die Frauen wurden meist auf die Rolle der Gehilfin reduziert, jedoch stellte die Zusammenarbeit mit einem Mann im ausklingenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert oftmals die einzige Möglichkeit für sie dar, um überhaupt arbeiten zu können.

Schölers grandioses Werk gleicht einer Beweissammlung, welche die Existenz eines Systems, das Männer bevorzugt und alle anderen blockiert, ein weiteres Mal bestätigt. Gleichzeitig liefert sie viele Argumente, mit denen man kritischen Stimmen, die Feminismus gerne als irrelevant abstempeln, den Wind aus den Segeln nehmen kann. (Patricia Kornfeld, 23.4.2024)