Authentische Zeichnung eines Milieus: Stephan Roiss.
Zoe Goldstein

Zu Beginn des Romans ist der Protagonist noch weit weg auf Kuba, als ihn die Nachricht vom Sterben seiner Mutter erreicht. Leon, der eigentlich Abstand gewinnen wollte, macht sich sofort auf den Weg nach Hause, kommt jedoch um den einen Augenblick zu spät im Krankenhaus an – und von nun an, so scheint es, läuft er auch seinem Leben hinterher, macht sich Vorwürfe, plagt sich mit Erinnerungen und zerwirft sich erst recht mit dem Vater.

Gerade von der Familie hat er sich doch abnabeln wollen: Zuerst hat der Vater, eine frustrierte Figur ohne beruflichen Erfolg, Frau und Kind verlassen, dann ist die allzu fürsorgliche Mutter irgendwann an Demenz erkrankt. Das alles versucht Leon, der bei einer Radiostation angestellt ist, hinter sich zu lassen.

Chaos der Gefühle

Die Punkband, in der er spielt, steht gerade vor dem Durchbruch, doch in diesem Moment muss Leon erfahren: "Der Tod ist falsch", und "die Zeit heilt einen Scheißdreck". Im Chaos der Gefühle stößt er nicht nur seine Musikerkolleginnen Vio und Milena vor den Kopf, in der unausweichlichen Erinnerungsarbeit wiederholt sich auch das familiäre Dilemma, denn die gelebte Distanz ist noch kein abgeschlossener Prozess.

So weit die Ausgangslage. Leon reagiert, indem er den Rückzug antritt. Erst zieht er sich aufs Land und noch mehr auf sich selbst zurück, dann veranlasst ihn eine Krebsdiagnose die Stopptaste zu drücken. Als ihn kurz darauf eine Einladung nach Venedig erreicht, beginnt eine Tour der belebenden Art, die ihn bis auf die Vulkaninsel Stromboli führt, einen Ort, der geradezu sinnbildlich für Lebenskraft steht. Schließlich geht es doch darum, dem Leben wieder Sinn zu geben.

Bildhaft und realistisch

Obwohl der Plot überschaubar bleibt, ist Lauter eine Geschichte mit viel Entwicklungsgang und wechselnden Schauplätzen. Vor allem aber beeindruckt der Roman durch authentische Zeichnung des Milieus. Roiss vermag bildhaft und realistisch, überaus dicht und konzentriert zu schreiben. Das hat schon sein erster Roman Triceratops 2020 gezeigt, der mehr als nur eine Talentprobe war und nicht zufällig auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis landete.

Roiss, Jahrgang 1983, versteht es, junge Lebenswelten abzubilden. Hier ist es die Punk- und Sprayerszene, und was in Gegenwartsromanen offenbar nicht fehlen darf: Es muss auch ein wenig queer darin zugehen. Der Protagonist selbst bezeichnet sich, Ironie hin oder her, "zu 42 Prozent schwul", als er in Venedig einem Paolo begegnet – zu Beginn des Romans auf Kuba war es übrigens noch eine Alessia gewesen, die er eigentlich auf Sizilien gerne wiedersehen möchte.

Dass die homoerotische Episode ausgerechnet in Venedig geschieht, lässt an Thomas Mann denken, aber Roiss ist klug genug, hier nichts zu verlinken, vielmehr schildert er einen entblößenden, den Protagonisten kurz traurig machenden Moment – zu sehr ist Leons Selbstgefühl nach vorangegangener Operation, bei der ihm ein Hoden entfernt werden musste, noch angekratzt.

Venedig aber, und hier wird der Roman richtig gut, scheint der ideale Ort für die Wiedererweckung der Lebensgeister, hier erlebt Leon wieder eine "Ahnung von Glück", und so wunderbar unbeschwert lässt ihn auch sein Autor durch die Stadt flanieren. Es sind die besten Kapitel im Roman, sie bilden genau die Mitte, mit subtilen, kontrastreichen Bildern und überzeugend geschilderten, skizzenhaften Eindrücken, dass man neidlos den Hut zieht.

Buchcover
Stephan Roiss, "Lauter". Roman. € 23,– / 240 Seiten. Jung und Jung, Salzburg 2024

Sinnliches Finale

Hätte der Roman so literarisch dicht und sprachlich stark nur auch begonnen! Denn am Anfang wirkt alles noch ein wenig umständlich, und die Doppelgleisigkeit zweier Stimmen – einer gegenwärtigen und einer aus der Erinnerung – bremst die Handlung, statt sie voranzutreiben. Andererseits bezieht der Roman daraus seinen Effekt: Denn ab Venedig geht es überraschend temporeich weiter, nicht nur sprachlich. Nun beginnt eine schnelle, intensive Reise tief in den Süden, bis zum großen sinnlichen Finale auf Stromboli!

So bleibt alles in ständiger Bewegung. In dem Augenblick, wo das Schicksal zuschlägt, verkürzen oder dehnen sich die Lebenswege im Wechselspiel der Gefühle. Und Leon, der nicht nur der Krankheit entflieht, lässt sich mit Erfolg darauf ein, indem er das alte Leben für sich neu erfindet. Am Ende gelingt die Erfüllung in der Kunst, das meint auch Lebenskunst. Und die ist ein stimmiger Schlussakkord, ein versöhntes Ende nämlich mit allem und allen und nicht zuletzt der ironischen Formel geschuldet: "Das Leben lohnt sich nicht, aber es ist gut und schön." Unterm Strich bleibt: starke Literatur! (Gerhard Zeillinger, 27.4.2024)