Debatte Identitätspolitik Antisemitismus
Alles nicht so schwarz-weiß sehen: Die linke Identitätspolitik spürt immer neue Minderheiten auf. Leider presst sie häufig alle von ihr Ermittelten in ein Freund-Feind-Schema.
Regine Hendrich

In höchster Not frisst der Teufel Fliegen. Ist der Bedarf erst einmal erhöht, laben sich auch die Parteigänger des Postkolonialismus an vergleichsweise unverdaulicher Kost.

Derweil vergeht kaum ein Tag, an dem nicht universitäres Ungemach vermeldet wird. Längst fühlen sich jüdische Studierende an den berühmtesten US-Unis nicht mehr sicher. Der Protest propalästinensischer Aktivisten dröhnt gellend laut in den Ohren: Tel Aviv soll bis auf die Grundmauern abbrennen; den jüdischen Kommilitonen wird sicherheitshalber empfohlen, nach Polen auszuwandern.

Derweil mästet sich der postkoloniale Diskurs an unerwarteter Stelle. In den sozialen Medien finden sich allen Ernstes Lobpreisungen des Terroristen Osama Bin Laden. Dieser hatte 2001 die Rechtfertigung des Al-Kaida-Terrors mit reichlich Antisemitismus garniert.

Es ist nicht die schrille Anti-Israel-Kritik allein, die an den Grundlagen linker Identitätspolitik rüttelt. Flugs wird das gespannte Verhältnis zwischen beiden Hemisphären – hie Globaler Norden, dort Globaler Süden – zur Schablone erklärt. In diese soll der Nahe Osten hineinpassen. Unterschlagen wird die wechselvolle Gründungsgeschichte des jüdischen Staates: die Idee eines Rückzugsortes, der allen verfolgten, ausgebeuteten Juden eine Heimstätte bietet. Jetzt soll ausgerechnet Israel, der "Siedlerstaat", das Apartheid-Erbe Südafrikas angetreten haben – und antipalästinensischen Rassismus pflegen. Was kein Jota an der Kritikwürdigkeit der Regierung Netanjahu ändert.

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AFP

In der kurzen Epoche seiner Wirkungsmacht hat der identitätspolitische Diskurs das Primat absoluter Parteilichkeit verkündet. Ausdrücklich macht er sich die Perspektive der vordem Unterdrückten zu eigen. Gemeint sind Minderheiten, die durch die Macht "weißer" Eliten um ihr Rederecht geprellt worden sind – mithin an der Entfaltung ihrer selbst.

Alles ist Sprache

So viel Unterdrückung hat angeblich System. Dieses fußt auf der Sprache: Wir, die wir alle nur denkmöglichen Privilegien besitzen, verwischen die Spuren der "anderen". Wir unterschlagen ihre Teilhabe, leugnen ihre Existenz. Mithin ist die Sprache alles – in ihr sind alle diejenigen Normen aufgehoben, die das Leben anderer, gleichsam von vornherein, zum Verschwinden bringen.

In den Prämissen der Identitätspolitik steckt, wie in einer Kapsel, der Poststrukturalismus. Erst durch sein unvermindertes Fortwirken wird die Fetischisierung von "Hassrede", von Sprachhandlungen, überhaupt fassbar.

"Alterität", gedacht als Vorstellung von Anders-Sein, wird schlechthin zum Prinzip. Denn auch so lässt sich das heutige Patchwork der Minderheiten verstehen: als fortwährende Spurensuche, um weitere Marginalisierte, Erniedrigte und Beleidigte zu ermitteln. Sie alle gehören in den Versteinerungen der Verhältnisse aufgespürt. Man muss ihr Vorkommen bestimmen, um sie freisprengen zu können wie mineralische Einschlüsse. Stets handelt es sich um solche, deren Perspektive bislang vernachlässigt worden ist.

Ein solches Modell lässt sich nur unter Schwierigkeiten an die linke Theorie anschließen. An die Stelle materiellen Handelns tritt die symbolische Güterabwägung. An den Besitzverhältnissen – den himmelschreienden Effekten, die die Armut so vieler Menschen produziert – braucht sich gar nichts zu ändern. Wichtiger ist es, dass die Machtapparate nicht mehr von den alten Unterdrückern "repräsentiert" werden.

Freund-Feind-Schema

Gehandelt wird nicht – das tut schon die Sprache für uns. Die Gesundung von als krank erkannten Verhältnissen erzielt man durch entschiedene Parteilichkeit. Die Welt ist alles, was in ein Freund-Feind-Schema passt. Juden sind laut einer solchen Lesart weiß, also sind sie definitionsgemäß hegemonial. Nach den Maßgaben derselben Logik sind sie kolonial – und womöglich auch rassistisch.

Eine Art Flurschaden ist eingetreten. Mehr und mehr geraten die wichtigen Errungenschaften linker Identitätspolitik in den Hintergrund. Ohne die Aufdeckung verinnerlichter Normen, die in den USA regelmäßig zu rassistischer Polizeigewalt geführt haben, wäre Black Lives Matter nicht möglich. Durch die Zu-Tode-Moralisierung selbst einfacher Sachverhalte hat man einen Backlash produziert: Nicht nur der deutschsprachige Buchmarkt schwappt über vor Titeln dauererregter "Wokismus"-Kritiker.

Unter den Unterstrich, meinen sie, – den Gender-Gap – soll endlich ein Schlussstrich gezogen werden. Dabei hat der Kampf um die Sichtbarkeit so vieler doch gerade erst begonnen. (Ronald Pohl, 27.4.2024)