Kim de l’Horizon hat den dringlichen Roman
Kim de l’Horizon hat den dringlichen Roman "Blutbuch" geschrieben und tritt in dessen Dramatisierung "Blutstück" von Leonie Böhm mit auf.
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Alles fließt in Kim de l’Horizons Roman Blutbuch, formbar beim Schreiben und Erzählen. Die Körper und Geschlechter, die (Familien-)Geschichte, die Sprache – Blut ist die alles verbindende Metapher. Die nicht-binäre Erzählfigur, die sich eigentlich aus beengten Kindheitsverhältnissen befreit und in Zürich ein selbstbestimmtes Leben erkämpft hatte, wird in Blutbuch durch die Demenzerkrankung der Großmutter auf ihre Kindheit zurückgeworfen.

Warum hat sie nur fragmentarische Erinnerungen daran, und was ist eigentlich mit der früh verstorbenen Schwester der Oma passiert? "Großmeer" ist im Bernerdeutschen die Bezeichnung für Großmutter, vom französischen "mère" für Mutter.

An die Oberfläche dieses gefrorenen Muttermeeres drängen familiäre Traumata, Frauenschicksale, Körper- und Klassenscham. Hier stecken die "Finger im Arsch", es fließt – soweit physikalisch möglich – "Scheiße in den Adern", man könnte also durchaus zu der Schlussfolgerung kommen: "Dieser Körper war mal eine gute Idee, aber jetzt Storno – wir wollen zurück in die Ursuppe."

Ein Text ruft nach der Bühne

2022 wurde Kim de l’Horizon, genderfluid und 1992 in Ostermundigen im Schweizer Kanton Bern geboren, dafür mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

"Mit einer enormen kreativen Energie sucht die nonbinäre Erzählfigur in Kim de l’Horizons Roman Blutbuch nach einer eigenen Sprache", begründete die Jury und führte aus: "Jeder Sprachversuch, von der plastischen Szene bis zum essayartigen Memoir, entfaltet Dringlichkeit und literarische Innovationskraft." Es gibt sicher Texte, die weniger vernehmlich danach schreien, auf die Bühne gebracht zu werden.

Die 1982 in Stuttgart geborene Regisseurin Leonie Böhm, bekannt für ihre freien Klassiker-Neuinszenierungen von Euripides über Schiller bis zu Horváth, jedenfalls hat den Ruf vernommen. Wobei sich Blutstück, das im Februar diesen Jahres am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde, durchaus von Böhms sonstigen Arbeiten unterscheidet – weil dieses Mal auch eine sehr lebendige ­Autorenperson zur Verfügung steht.

Und so tritt Kim de l’Horizon zusammen mit den Darstellerinnen und Darstellern Vincent Basse, Gro Swantje Kohlhof, Sasha ­Melroch und Lukas Vögler auf, wurde der ­Roman weniger als Vorlage und mehr als Ausgangspunkt verwendet. Als Material, "um neue Formen der Gemeinschaft zu entdecken", wie de l’Horizon erklärt, als Stoff, den man in seine Einzelteile zerlegen, umformen, neu zusammenbauen kann. Alles ganz fließend eben.

Abend der freien Assoziationen

Herausgekommen ist ein durchaus kontroverser, herausfordernder Abend. So wie die bunten Tücher, die die blutrote Bühne bedecken, verwendet auch Blutstück die Sprache, die Elemente des Buches als Versatzstücke, als Flickwerk, um daraus einen improvisierenden, frei assoziierenden Abend zu bauen – an dem auch das Publikum miteinbezogen und so Teil der "Gemeinschaft" werden soll.

Das kam nicht nur bei einem Teil des Uraufführungspublikums gut an. "Ein Abend, der einfallsreich und schön spielerisch ist; Schauspieler, die durchlässig, lustvoll und vielfältig agieren, und ein Text, der sensibel und politisch ist", wurde geschwärmt. "Man lebt und erlebt diese Schauspieler und die Texte wie in einem luziden, philosophischen Traum. Merci!" (Andrea Heinz)

Ghetto-Tristesse und Reichtum in dieser zeitlos brisanten
Ghetto-Tristesse und Reichtum in dieser zeitlos brisanten "Clemenza".
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Milo Rau inszeniert Mozarts „La Clemenza di Tito”

Intendant Milo Rau nimmt in seinem ersten Jahr als Chef der Festwochen gleich mit Mozart Verbindung auf. Heikel. Mozart-Inszenierungen umweht immer auch die Frage, wie viel substanzvoll ­Neues sinnvoll aus dem Musikdramatiker herauszudeuten ist.

Bei seiner Adaption von La Clemenza di Tito thematisiert Rau einen Herrscher in der Pose "bloßer Selbsterhaltung" mit einer Attitüde, die als "leere Revolutionsfloskel" decouvriert wird. Seine Übertragung in die Gegenwart? Der Regisseur arbeitet mit "18 in Wien lebenden Menschen, die teils selbst Erfahrungen mit repressiven Systemen gemacht haben", um die zeitlose Brisanz des Stoffes zu vermitteln.

Der musikalische Rahmen ist vielversprechend: Die Camerata Salzburg und der Arnold Schoenberg Chor, angeleitet von Thomas Hengelbrock, werden die Kontraste zwischen Ghetto-Tristesse und Wohlstand ummanteln. In einem Werk, das bei Mozart die Güte eines Monarchen schildert. (Ljubisa Tosic)

Authentisches Spiel: das Kollektiv Cara de Cavalo aus Brasilien.
Authentisches Spiel: das Kollektiv Cara de Cavalo aus Brasilien.
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Carolina Bianchis Stück über Gewalt gegen Frauen

Die italienische Aktionskünstlerin Pippa Bacca (Giuseppina Pasqualino di Marineo) wurde auf einer künstlerischen Reise für ihr Projekt Brides on Tour nahe der türkischen Stadt Gebze vergewaltigt und ermordet.

Zusammen mit einer Künstlerkollegin war sie 2008 im weißen Brautkleid per Anhalter von Mailand aufgebrochen, um über den Balkan und den Mittleren Osten nach Jerusalem zu kommen. Es sollte eine Reise für Frieden und Vertrauen in Mitmenschen werden.

Carolina Bianchi, Performerin und Leiterin des Kollektivs Cara de Cavalo aus São Paulo, nimmt diese Tragödie als zentrales Motiv für ihr Stück Die Braut und Good Night Cinderella, das erste Kapitel ihrer Trilogie Cadela Força. Darin geht es über den Femizid an Bacca hinaus um die Geschichte der Gewalt an Frauen.

Bianchi selbst ist auf der Bühne. Dort nimmt sie – mit Bezug auf viele reale Verbrechen – Knockout-Tropfen, die in Brasilien "Boa Noite Cinderela" heißen. (Helmut Ploebst, 26.4.2024)