"Wir werden da ordentlich aufmischen", verspricht sie mit einem breiten Lächeln, den Blick direkt in die Handykamera gerichtet. Es ist ein Video von mehreren auf Instagram, in denen die junge Frau darüber spricht, was sie vorhat. Und das ist nichts Geringeres, als Abgeordnete im Europäischen Parlament zu werden. Lina Johnsen ist Teil der Letzten Generation in Deutschland, die bei der Wahl am 9. Juni antreten wird. Johnsen ist Platz eins auf der Liste – oder die "Spitzenaufmischerin", wie sie es in dem Video nennt.

Die Letzte Generation, auch als "Klimakleber" bekannt, will künftig nicht mehr bloß den Verkehr auf großen Straßen blockieren, Gebäude ansprühen oder berühmte Gemälde mit Kartoffelbrei bewerfen – vielmehr wagt sie einen nächsten Schritt: jenen in die Politik. Bei einem Videotelefonat spricht Johnsen über den Strategiewechsel: "Wir waren schon immer auf der Suche nach Bühnen, die wir uns nehmen können. Immerhin befinden wir uns in der größten Menschheitskrise, und auf die wird politisch bisher nicht angemessen reagiert."

Keine Prozenthürde

Dass Johnsen demnächst im EU-Parlament sitzt, scheint gar nicht so unrealistisch. Bei der Wahl gibt es in Deutschland nämlich keine Prozenthürde. Das bedeutet: Auch mit relativ wenigen Stimmen können Kleinparteien Abgeordnete nach Brüssel schicken. Bei der letzten Wahl im Jahr 2019 erhielt zum Beispiel die Tierschutzpartei mit 1,4 Prozent ein Mandat oder die Piraten mit 0,7 Prozent. Was eine Klimakleberin im Kern der europäischen Demokratie will? "Den Protest von der Straße ins Parlament bringen." Denn dort säßen Menschen, die politisch das Sagen hätten und große Entscheidungen für die Gesellschaft treffen müssten.

Aber wer ist Linda Johnsen überhaupt? Und kann das, was sie und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter sich vorstellen, funktionieren?

Die Idee kam der Gruppe durch ihre Schwesterkampagne in Schweden. Auch dort hatten Aktivistinnen und Aktivisten kandidiert – damals ohne Erfolg. "Wir haben uns gedacht: Wieso probieren wir das nicht hier in Deutschland aus?", sagt Johnsen. "Wir haben die Ressourcen, die Mittel, die Leute, wir können das stemmen – lasst uns das doch einfach versuchen."

Unterschriften sammeln

Also gründete die Letzte Generation eine sogenannte sonstige politische Vereinigung. Sie lukrierte Spenden, "innerhalb von sechs Stunden hatten wir über 50.000 Euro zusammen", und suchte nach Helferinnen und Helfern, die für sie Unterschriften sammeln. Denn um überhaupt auf den Wahlzettel zu kommen, braucht es zumindest 4000 Unterstützungserklärungen. Die Gruppe hat rund 8800 zusammenbekommen. "Dass wir doppelt so viele Unterschriften gesammelt haben wie nötig, zeigt: Viele Menschen stehen dahinter", glaubt Johnsen.

Johnsen, 26 Jahre alt, wurde vor etwas mehr als zwei Jahren bei der Letzten Generation aktiv. Sie beendete gerade ihr Studium der Umweltwissenschaften, wollte danach in einer NGO arbeiten, sich so für den Klimaschutz einsetzen. Da klebte ein Zettel auf ihrem Spind: "Die Klimakatastrophe wartet nicht, bis du mit deinem Studium fertig bist!" Sie fühlte sich gleich angesprochen.

Ein weiteres Schlüsselerlebnis hatte Johnsen bei einer Ausstellung in Münster, es ging um grünen Kapitalismus. "Ich habe mir dort jede einzelne Tafel durchgelesen, und da wurde mir so richtig kotzübel", berichtet sie. Klimaschutz und Kapitalismus, das gehe doch niemals zusammen. Sie ging nervös schlafen, wachte nervös auf. Erzählte einer Freundin von dem Gefühl, keine Kontrolle mehr zu haben. Die Freundin sagte ihr, dass sie zu einem Probetraining der Letzten Generation geht. Johnsen ging mit.

Seit rund zwei Jahren engagiert sich Lina Johnsen bei den "Klimaklebern". Schon bald könnte sie im Europäischen Parlament sitzen.
Amin Akhtar

"Ich hatte den Eindruck: Das sind Leute, die haben dasselbe Dringlichkeitsverständnis wie ich." Schon vorher engagierte sie sich, ging auf Demos von Fridays for Future, machte bei Aktionen von Extinction Rebellion mit, spendete an Umweltschutzorganisationen. Doch all das fühlte sich nicht richtig an, nicht genug. "Ich habe gemerkt, es braucht direkte Aktionen, immer wieder." Das bot ihr die Letzte Generation. Fotos zeigen die 26-Jährige, wie sie sich am Frankfurter Tor einem Lkw in den Weg stellt oder sich in Berlin auf eine mehrspurige Straße klebt. "Wir können nicht ignoriert werden, das ist für mich die Stärke: diese Unignorierbarkeit."

Kurzentschlossen

Bald wurde Johnsen Sprecherin – bis sie gefragt wurde, ob sie Spitzenkandidatin werden will. "Ich war erstmal so: Oh mein Gott, was bedeutet das eigentlich? Aber ich habe mich dann doch relativ schnell dafür entschieden. Ich hatte das Gefühl, ich kann das, ich werde mein Bestes geben, und das wird schon." Aber natürlich habe sie auch großen Respekt vor der Verantwortung, räumt sie ein.

Auf Platz zwei auf der Liste steht Theodor Schnarr, ein Biochemiker, auf Platz drei Carla Hinrichs, die zu Deutschlands bekanntesten Gesichtern der Letzten Generation gehört. "Natürlich wäre es schön, wenn wir mindestens zu zweit in Brüssel wären", sagt Johnsen. Für sehr realistisch hält sie das jedoch selbst nicht, mit mehr als einem Sitz rechne sie nicht.

Eine klassische Politikerin will Johnsen nicht sein, das betont sie immer wieder, auch in anderen Interviews. Das ist übrigens auch der Grund, wieso sie sich nicht einfach einer größeren Partei anschließen wollte, so wie in Österreich Lena Schilling. Die Klimaaktivistin kandidiert hierzulande als Spitzenkandidatin für die Grünen bei der EU-Wahl. "Wir wollen in Brüssel nicht parteipolitische Arbeit leisten, weil wir wissen, dass es dadurch nicht zu grundlegenden systemischen Veränderungen kommen wird", sagt Johnsen. Eine Partei alleine könne "das Ruder nicht rumreisen", meint sie. Ihr Ziel ist es daher nicht, in Brüssel mitzugestalten, sie will irritieren, stören – aufmischen eben.

Aktionen im Parlament

Wie genau der Protest aussehen soll, dazu hält sich Johnsen noch bedeckt. Die Liste an friedlichen Protestformen sei lang: Von Boykott und Blockaden über Farbaktionen bis hin zu Streiks, vieles sei vorstellbar. "Wir wollen uns nichts nehmen lassen." Wäre auch Ankleben denkbar? Johnsen bejaht. "Wir haben aber noch mehr vor. Wir wollen transparent machen, wie Entscheidungen getroffen werden, ob dabei alles richtig vonstattengeht." Einmal pro Woche solle es ein "Anti-Korruptions-Update" live aus dem Parlament geben.

Letzte Generation; Lina Johnsen; Berlin
Ein Protest der Letzten Generation in Berlin. Eine der wichtigsten Forderungen bei der EU-Wahl: der Ausstieg aus Öl, Gas und Kohle spätestens 2030.
Letzte Generation

So wie sie keine klassische Politikerin sein will, macht Johnsen auch keinen klassischen Wahlkampf. "Wir verteilen keine Kugelschreiber in der Fußgängerzone oder stellen uns mit Fähnchen auf." Stattdessen verschenken sie und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter beispielsweise gerettete Lebensmittel an Passantinnen und Passanten. Oder stören die Wahlveranstaltungen anderer Fraktionen, etwa der liberalen FDP. Plakate gibt es jedoch schon. Sie sind knallorange, und auf jedem prangt eine andere simple Botschaft, beispielsweise "Ignorierst du mich? – Die Klimakrise" oder "Protest wählen".

Funktioniert das?

Aber Protest im Parlament, geht das zusammen? Paul Schmidt, Geschäftsführer der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, ist skeptisch: "Das Europäische Parlament ist ein Arbeitsparlament. Es geht vor allem darum, Koalitionen zu schmieden, Kompromisse zu schließen – um Gesetze zu verabschieden", sagt Schmidt zum STANDARD. Die gesetzgeberische Arbeit eines Abgeordneten sei ein Handwerk, das erlernt werden müsse. "Als Ein-Personen-Einrichtung kann ich dort wenig ausrichten. Wenn ich mich nicht einer Fraktion anschließe, bekomme ich die kürzeste Redezeit, kann nicht mitarbeiten. Ich kann zwar um ein Thema besonderen Wind auf meinem Youtube-Kanal machen, aber das können andere auch. Deshalb ist die Frage: Was ist der große Mehrwert?"

Er denke nicht, dass es einen Unterschied mache, ob sich jemand als Aktivistin auf der Straße oder im EU-Parlament einem Thema widmet, sagt Schmidt. "Widerstand ins Parlament zu tragen, das klingt als Überschrift erst einmal super. Aber ich weiß nicht, ob es der Realität entspricht." Außerdem: "Wenn ich gute Argumente habe, kann ich Abgeordnete dazu überzeugen, etwas einzubringen, ohne selbst Abgeordnete oder Abgeordneter zu sein."

"Ein Riesenscheißproblem"

Ob die Letzte Generation auch bei anderen Wahlen antreten wird, lässt Johnsen offen. Aktuell wolle man sich auf die Europawahl konzentrieren. "Es ist ein Riesenscheißproblem, das wir hier gerade haben. Und wir müssen alle zusammen überlegen: Wie kommen wir aus dieser Krise heraus, von der wir schon seit 30 oder 50 Jahren ganz genau wissen, was sie für Auswirkungen hat?", sagt sie mit Nachdruck. Anders als in dem Video auf Instagram, in dem sie ihre Kandidatur verkündet, schaut sie nun ernst, die Augenbrauen zusammengezogen, die Stirn in Falten gelegt.

Lina Johnsen; Freiburg; Letzte Generation
Spitzenkandidatin Johnsen bei einer Plakataktion im deutschen Freiburg. Die Proteste der Letzten Generation helfen ihr gegen das Gefühl der Ohnmacht, sagt sie.
Letzte Generation

Diesen Monat will die Letzte Generation runde Tische in verschiedenen Städten Deutschlands organisieren, um den Menschen ihre Anliegen näherzubringen. Aber auch um zu erfahren, was ihnen wichtig ist. Ihr Programm für die Europawahl besteht aus gerade einmal vier Forderungen. Gesellschaftsräte, die Pläne ausarbeiten, die die Politik dann verwirklichen soll, sind eine davon. Sonst noch auf der Webseite gelistet: der Ausstieg aus Öl, Gas und Kohle spätestens 2030, soziale Gerechtigkeit und die Unterstützung von Klimabewegungen.

Wenn für sie alles gutgeht, wird Lina Johnsen bald Abgeordnete in Brüssel sein, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, einem eigenen Büro. Die Vorstellung ist ihr immer noch abstrakt, das merkt man. Aber die Aktivistin sieht das gewissermaßen gelassen: "Zu verlieren haben wir nichts, nur ganz viel zu gewinnen." (Lisa Breit, 8.5.2024)