Zeit für Stunden der Muße (wie hier Ende April bei der Teilnahme an einem Konzert der Tschechischen Philharmonie in Prag) hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wenig. Anlass war die Feier zum 20. Jahrestag der EU-Erweiterung. Nun ist die Spitzenkandidatin von Europas Christdemokraten im EU-Wahlkampf. Vom Ergebnis der Wahl in 27 Staaten wird abhängen, ob sie weiter im Amt bleiben kann.
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In einem Monat finden die Europawahlen statt. Von 440 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürgern in den 27 Mitgliedsstaaten sind an den Wahltagen zwischen 6. und 9. Juni rund 350 Millionen wahlberechtigt. Neben den derzeit laufenden Wahlen in Indien mit 1,4 Milliarden Einwohnern und der Präsidentenkür in den USA im November wird das also eine der wichtigsten Entscheidungen in der demokratischen Welt in einem kriegsgeprägten Jahr 2024 sein.

Sie könnte – je nach Ausgang – durchaus globale Konsequenzen haben: wirtschaftlich, was Wettbewerbsfähigkeit und die künftige Strategie zur Klimakrise betrifft zum Beispiel, aber auch für den Umgang mit dem Krieg im Nachbarland Ukraine und für die Zukunft einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik.

Es steht also viel auf dem Spiel bzw. zur Wahl. Vom Votum der gesamten EU-Wählerschaft wird nicht nur die Neuverteilung der Mandate am Hauptsitz in Straßburg abhängen. Derzeit gibt es dort 705 EU-Abgeordnete, die sich in sieben Fraktionen zusammengeschlossen haben. Zum ersten Mal wird Großbritannien nicht an der Wahl teilnehmen. Nach einer Neuverteilung und Gewichtung sind diesmal 720 Mandate zu vergeben, davon 20 an Österreich (eines mehr als zuletzt 2019).

Neue EU-Führung

Gleich nach der Neukonstituierung des EU-Parlaments fallen dann die nächsten wichtigsten Entscheidungen für das Funktionieren des demokratischen Räderwerks der Europäischen Union. Im Juli (oder erst im September) wird das Parlament mit Mehrheit entscheiden, ob Ursula von der Leyen Präsidentin der EU-Kommission bleibt. Oder ob ein anderer zum Zug kommt und ein neues Kommissarsteam plus Arbeitsprogramm aufstellt.

Das Vorschlagsrecht dazu haben die 27 Staats- und Regierungschefs, in freier Entscheidung. Sie sind es auch, die im "Personalpaket" über den neuen Präsidenten des Europäischen Rats und den oder die Hohe Beauftragte für die gemeinsame Außenpolitik entscheiden.

Die Europawahlen entscheiden also darüber, wie die gesamte europäische Führung für die nächste Legislaturperiode bis 2029 zusammengesetzt, ausbalanciert, gewichtet sein wird. Fast wie in Nationalstaaten.

Traditionsparteien verlieren

In den europäischen Parteienfamilien steigt die Anspannung. Vor allem eine entscheidende Frage zieht sich bei den in Umfragen schwächelnden Traditionsparteien – Christ- und Sozialdemokraten, Liberale, Grüne – wie ein roter Faden durch die Kampagnen in allen EU-Staaten: Kommt der prognostizierte Rechtsruck, sogar ein deutliches Erstarken von EU-skeptischen bis EU-feindlichen Parteien?

Oder kommen die vier exponiert EU-freundlichen Großfraktionen am Ende doch mit einem blauen Auge davon? Die Christdemokraten (EVP, 177 Mandate), die Sozialdemokraten (S&D, 139) und die Liberalen (RE, 102) haben seit 2019 das Programm der Kommission mit dem Green Deal im Zentrum und den Ukraine-Hilfen in einer Dreierkoalition getragen, mit bequemer Mehrheit, partiell unterstützt von den Grünen (72 Mandate).

Ein starker Rechtsruck könnte diese Mehrheit ins Wanken bringen. Dann müsste eine neue Kommission versuchen, sich auf eine Viererkoalition (mit den Grünen) zu stützen. Oder es kommt – wie S&D, Grüne und die kleine Linksfraktion (41) befürchten – dazu, dass EVP und Liberale versuchen, mit einer erstarkten Fraktion der Konservativen (ECR) eine andere Mehrheit zu suchen.

27 nationale Wahlen

Das hat viel damit zu tun, dass EU-Wahlen im Grunde 27 nationale Einzelwahlen sind. Es gibt kein gemeinschaftliches Wahlrecht. Die Fraktionen bilden sich nach dem Wahltag relativ lose aus bis zu zweihundert Einzelparteien und Gruppen in den 27 Mitgliedsländern. Und es ist besonders schwer vorauszusagen, ob und wie nationalistische Rechtsparteien sich zusammenschließen. Oft teilen sie nur ihre harte EU-Ablehnung.

Dennoch: Vor allem die AfD aus Deutschland und die FPÖ, die sich mit Lega und der Le-Pen-Partei aus Frankreich in der Fraktion "Identität und Demokratie" (59 Mandate) zusammengeschlossen haben, träumen von einem großen gemeinsamen Sieg gegen "das System". Möglich wäre ein Zusammenschluss aller rechten Parteien im EU-Parlament mit der EU-skeptischen konservativen Fraktion (EKR, 68 Mandate) zu einer einzigen Großfraktion, gab FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky als Zielsetzung aus.

Er ist einer der vehementesten Vertreter dieser Richtung. Seine Slogans vom "Kriegstreiber EU" oder dem angeblichen "EU-Wahnsinn" oder "Irrsinn in Brüssel" sind krass. Durch Skandale rund um den AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah erfolgte zuletzt ein Rückschlag. Aber Vilimsky glaubt daran, dass man es sogar zur zweitstärksten Gruppe in Straßburg schaffen könnte: hinter der EVP, aber deutlich vor den Sozialdemokraten.

Meloni wird entscheidend sein

Die Umfragen geben das durchaus her. ID-Fraktion und EKR (die derzeit von der polnischen PiS geführt wird) könnten je 20 Mandate dazugewinnen, gemeinsam auf 160 Sitze kommen. Das würde zu viel mehr Mitteln und Redezeit führen.

Umgekehrt droht den Grünen ein starkes Minus, durchgerechnet der Verlust von 20 Mandaten, nur noch sechststärkste Fraktion. Ebenso würden die Liberalen auf Platz fünf zurückfallen, was vor allem durch den Absturz der Partei von Präsident Emmanuel Macron in Frankreich droht: 2019 hatte sie noch über Le Pen triumphiert.

Aber dem rechten Durchmarsch könnte ausgerechnet die Fratelli-Partei von Italiens Premierministerin Georgia Meloni eine Grenze setzen. Sie dürfte allein mehr als 20 Mandate gewinnen, die Führung bei den Konservativen übernehmen. Im Gegensatz zu FPÖ oder AfD fährt sie einen harten Kurs gegen Putin und für die Unterstützung der Ukraine im Krieg, verhält sich im EU-Rat konstruktiv. Das geht nicht zusammen. Alles offen also. Aber die Machtverhältnisse in Europa dürften noch komplizierter werden. (Thomas Mayer, 9.5.2024)