"Lasst Kinder doch Kinder sein!“ Diese Forderung hört man von Eltern, Lehr- und Fachpersonen, Journalisten und Politikerinnen. Der Unterton ist dringlich: Scheinbar ist ein wesentlicher Bestandteil der Kindheit bedroht. Kinder können, so wird befürchtet, nicht mehr unbeschwert spielen und so aufwachsen, wie es ihnen entsprechen würde und ihrer Entwicklung zuträglich wäre. Zudem schwingt in dieser Auffassung mit, dass Kinder automatisch heranreifen und sich von allein entwickeln, wenn man sie denn nur ließe.

Das Kind ein Kind sein und sich selbst entwickeln lassen oder es von außen optimal fördern, das sind die beiden Pole, zwischen denen sich Kindheit abspielt.
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Mindestens genauso präsent ist in den letzten Jahren allerdings auch der Ruf nach "Förderung" geworden. Im Fokus stehen dabei meist nicht Kinder mit einem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf. Gefördert werden sollen vielmehr alle Kinder, und zwar ab Geburt. Das Spielen ist längst als ideale Aktivität identifiziert worden, um die Entwicklung und das Lernen zu unterstützen.

Wer beklagt, die Kindheit sei bedroht, meint nicht, dass die Phase der Kindheit an sich verschwinden könnte (siehe Neil Postman Das Verschwinden der Kindheit). Vielmehr ist gemeint, dass das, was die Kindheit wertvoll macht, verloren geht. Denn vor dem Hintergrund, dass jeder Mensch der Kindheit mit der Zeit entwächst, scheint es naheliegend, die Kindheit in erster Linie als eine Übergangsphase zu verstehen, die möglicherweise keinen eigenen Wert hat. So verstanden hat die Kindheit vielmehr einen instrumentellen Wert, insofern sie der Entwicklung eines Menschen hin zu einem geglückten Leben als Erwachsener dienlich sein kann.

Sorge, dass etwas verloren geht

Allerdings sind die beiden genannten Thesen – die Angst vor der verlorenen Kindheit und der Wunsch nach mehr und gezielterer Förderung in der frühen Kindheit – einseitig und sollten nicht isoliert betrachtet werden. Aus der These der "bedrohten Kindheit" wird deutlich, dass die Kindheit auch als Zustand mit einem eigenen Wert gesehen wird: Die Sorge besteht also darin, dass etwas verloren geht, was auch für sich allein von Bedeutung ist. Während diese Sichtweise die Kindheit als Zustand begreift, sieht die andere Auffassung die Kindheit als Transition. Je nach Sichtweise erscheint also das Kind eher als ein "Seiendes", das in seinem Kindsein nicht gestört werden soll, oder eher als ein "Werdendes", das aus der Kindheit möglichst erfolgreich herausgeführt werden muss (David Archand Children. Rights and Childhood).

Eine Sicht auf die Kindheit als Übergangsphase sieht das Kind als unvollkommenes Wesen, das die Kindheit überwinden muss, mit dem Ziel, erwachsen zu werden. Dabei entsteht heute zunehmend der Eindruck, dass dies ein Kind nicht allein schafft und Hilfe benötigt. Das Erwachsenenalter gilt als dem Kindesalter überlegen. Diese Vorstellungen finden sich bereits bei Aristoteles sowie später bei Immanuel Kant. Die Kindheit wird hier nicht als ein Gut an sich aufgefasst, sondern sie hat lediglich instrumentellen Wert: Kinder sollen insofern "Kinder sein dürfen", als ihnen ein geschützter, besonderer Rahmen dabei hilft, erfolgreiche Erwachsene zu werden.

Bedeutung der Kindheit für das Leben

Gegen die Bewertung von Kindheit als bloße Übergangsphase wird eingewendet, sie reduziere den Zustand der Kindheit auf ein notwendiges, aber an sich bedeutungsloses Vorspiel auf das Eigentliche, nämlich das Erwachsenenleben. Damit werde außer Acht gelassen, dass die Kindheit an sich – ohne einen über sie hinausreichenden Zweck – wertvoll sei. Tatsächlich mutet es seltsam an, die Kindheit bloß als eine missliche Lage zu verstehen, aus der dem Kind möglichst rasch herausgeholfen werden soll (wie bei Sarah Hannan Why Childhood is Bad for Children). Ein Kind ist mehr als ein unreifes Wesen, das in erster Linie so rasch wie möglich erwachsen werden muss, sondern es ist ein vollständiges und vollwertiges Wesen, mit ihm eigenen Erlebens- und Verhaltensweisen.

Heute ist klar, dass nicht ein einziges Modell allein die menschliche Entwicklung erklären kann. Es ist unbestritten, dass der Mensch sein ganzes Leben lang lernt und sich weiterentwickelt, wobei in den ersten Lebensjahren grundlegende Entwicklungsprozesse den Körper, das Gehirn und das Denken nachhaltig beeinflussen. Wichtig zu verstehen ist dabei, dass genetisch bedingte, biologische Reifungsprozesse in einer ständigen und aktiven Wechselwirkung mit der Umwelt stehen, in der sich das aufwachsende Kind befindet. Die Entdeckungslust des Kindes, die Möglichkeiten, die die Umwelt bietet, und die verschiedenen Veränderungen im Umfeld und im Kind selbst zeichnen das Kindsein als Lebensform mit eigenem Wert aus. Sie unterstreichen aber auch die Bedeutung der Kindheit für das ganze Leben.

Interaktionen

Sozialer Austausch spielt in der Entwicklung eines Kindes auf vielfältige Weise eine zentrale Rolle. Die Entwicklung profitiert zum Beispiel von der Interaktion mit einer erfahrenen Person, etwa einer Bezugs- oder Lehrperson oder einem älteren Geschwister. Diese bilden ein "Gerüst", das dem Kind das Denken auf einer höheren Ebene ermöglicht, als es selbst vorläufig bewältigen könnte. Von solchen Vorbildern können Kinder lernen; aber nicht nur dies: Vertrauensvolle, verfügbare und verlässliche Beziehungen zwischen Kind und Betreuungspersonen sind die Basis für eine gesunde und glückliche Kindheit.

Beide Ansätze – "Das Kind sein und sich selbst entwickeln lassen" wie auch "Das Kind von außen optimal fördern" – sind selten in Reinform zu finden, sondern ergänzen sich oft gegenseitig. Vor allem sind sie auch Bestandteil verschiedenster Initiativen, die sich das Wohl und das Glücklichsein von Kindern zum Ziel gesetzt haben. Zum Beispiel berücksichtigt das "Gebäude der Kinderrechte" der UN-Kinderrechtskonvention mit seinen drei Säulen Schutz, Förderung und Partizipation sowohl die Eigenständigkeit als auch die Abhängigkeit des Kindes (siehe Jörg Maywald 30 Jahre UN-Kinderrechtskonvention – eine Zwischenbilanz). Dank dieser Prinzipien sind Kinder nicht mehr nur "Menschen in Entwicklung", sondern eben auch Menschen mit eigenen, persönlichen Rechten. Die Kinderrechtskonvention fordert zudem, Ungleiches ungleich zu behandeln – sprich, Kinder aufgrund ihres "Nicht-erwachsen-Seins" nicht als Erwachsene zu behandeln, sondern die Besonderheiten der Kindheit und den jeweiligen Entwicklungsstand zu berücksichtigen. Dies soll verhindern, dass die Gesellschaft Kinder aufgrund ihres Alters und anderer Merkmale ausgrenzt und diskriminiert.

Ganzheitliches und kreatives Denken

Der einfachste und wohl wichtigste Weg, Kinder zu fördern, ist, ihnen genug Raum zum Spielen zu geben und sie im Spielen ihre Neugier ausleben zu lassen. Der Nutzen des Spielens ist beim Menschen, aber auch bei Tieren unbestritten. Auch Tierkinder entdecken spielend die Welt und üben spielend neue Fertigkeiten. Geht man allerdings durch die Spielwarenabteilungen – insbesondere durch die Bereiche mit "pädagogisch wertvollem" Spielzeug –, so dient vieles, wenn nicht alles, einem vorbestimmten Zweck. Es entsteht der Eindruck, ganz im Sinne des zu Beginn beschriebenen Ansatzes, dass Kinder mehr gefördert werden müssen und dass das Spielen von seiner Anarchie befreit werden soll. Es ist aber gerade das Sinnfreie, das Anarchische, das Alberne im Spiel, was es an sich wertvoll macht, denn dieses Element ist nur auf den ersten Blick belanglos. Genau diese Form des Spielens bringt das Kind in immer neue Situationen, in denen neue Strategien ausprobiert werden müssen, und führt so zu ganzheitlichem und kreativerem Denken. Sogar Roboter, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet sind, profitieren vom zufallsgesteuerten Herumtanzen, wenn sie danach auf etwas Unerwartetes reagieren müssen.

Spielen ist – vereinfachend gesagt – nur dann wirklich Spielen, wenn das Kind aus einem inneren Antrieb das macht, worauf es gerade Lust hat. Das kindliche Spielen ist spontan, freiwillig und sich selbst genügend. Dennoch ist es auch ernsthaft: Es geht hier nicht allein um Zeitvertreib oder um Ablenkung oder darum, sich besser zu fühlen, obwohl diese Spielmotive bereits sehr früh in der Kindheit bedeutsam sind. Es geht im Kern um eine Ausdrucks-, Erlebens- und Herangehensweise, die für diese Entwicklungsphase typisch ist.

Fast alles, was ein Kind tut oder was es sieht, fühlt oder hört, verarbeitet es im Spielen weiter. Jüngere und auch ältere Kinder können sich ganz im Spielen, im Moment des Erlebens – dem Hier und Jetzt – vergessen. Das Ziel oder Produkt des Spielens ist oft weniger wichtig als der Moment an sich. Insofern scheint Spielen zunächst zweckfrei zu sein. Es erschafft jedoch oft auch eine realitätsnahe Umwelt, in der Dinge spielerisch ausprobiert werden. Kinder können hier verschiedene Rollen übernehmen und Perspektiven einnehmen. Im Spielen schulen Kinder geistige Fähigkeiten und lernen, Strategien zu entwickeln und anzuwenden sowie Emotionen zu regulieren.

Fürsorge und Zuwendung

Wissen wir also, was eine glückliche Kindheit genau ausmacht? In den Grundzügen ja. Eine Kindheit kann vereinfachend dann als "glücklich" bezeichnet werden, wenn das Kind jene Fürsorge und Zuwendung erfährt, die es für sein Wohlbefinden und das Ausleben seiner Entdeckungs- und Spielfreude braucht. Dies ist zweifellos richtig, greift jedoch insofern zu kurz, als dass Kinder im Zusammenspiel von biologischen (das heißt vor allem genetischen) Faktoren und der Umwelt auch selbst aktiv sind und auf ihr Umfeld einwirken.

Das Kind gestaltet also seine unmittelbare Umwelt mit. Es wählt Beziehungen aus und macht Erfahrungen entsprechend seinen Fähigkeiten und Neigungen. Mit wachsender Selbstständigkeit sucht sich das Kind "seine Nische in der Welt" aus. Es braucht dazu eine Umgebung, die ihm vielfältige Lerngelegenheiten und vertrauensvolle Beziehungen bietet. Auf dieser Basis entwickelt ein Kind intrinsische Motivation und Neugier. So kann es die Welt erkunden, spielen, Erfahrungen sammeln und seine Kompetenzen erweitern, während es vom Kind zum Erwachsenen wird.

Aber welche Form der Kindheit ist nun eigentlich für Kinder gut? Wenn wir davon ausgehen, dass das Bild der unbeschwerten Kindheit größtenteils eine Verklärung durch die Eltern ist: Sind die typischen Charakteristika der Kindheit vielleicht einfach darauf zurückzuführen, dass Kinder noch nicht hinreichend rational handeln, keine ausgebildete Identität besitzen und abhängig von ihren Eltern sind? Ist das Ende der Kindheit also gleichsam eine Befreiung aus der Abhängigkeit und Fremdbestimmtheit? Oder gilt es dennoch, die Kindheit als Paradies möglichst lange zu schützen, bevor der Ernst des Lebens beginnt? Ist es nicht sogar erstrebenswert, kindliche Kreativität und Neugierde zumindest teilweise ins Erwachsenenleben hinüberzuretten?

Eine "Vernützlichung der Kindheit"

Wie Erwachsene die Kindheit verstehen, wurzelt oft in einer von zwei sehr unterschiedlichen Sichtweisen: Auf der einen Seite steht die Tendenz, die Kindheit vor Einflüssen der Erwachsenenwelt zu bewahren und damit zu romantisieren. Dies ist die Folge unserer eigenen Sehnsucht nach einem Leben, wie wir es als Erwachsene nicht mehr führen können. Diese Romantisierung wird allerdings weder den verschiedenen Facetten des Kindseins noch des Erwachsenseins gerecht. Sie reduziert beide Lebensabschnitte auf sich entgegenstehende Aspekte und Möglichkeiten.

Auf der anderen Seite steht der Wunsch, die vielen scheinbar unnützen Aktivitäten von Kindern durch nützliche zu ersetzen. Diese Funktionalisierung der Kindheit greift ebenfalls zu kurz, denn sie betrachtet die Kindheit als eine bloße Vorbereitung auf das spätere Leben. Es wird angenommen, dass eine "Vernützlichung der Kindheit" erfolgreiche und glückliche Erwachsene hervorbringt. Damit wird übersehen, dass eine hohe Lebensqualität für Kinder etwas anderes ist als für Erwachsene.

Kinder können nur dann Kinder sein, wenn sie sich an der Ordnung der erwachsenen Welt orientieren und sich darin aufgehoben und geborgen fühlen können. Das ist zum einen die Welt der täglichen Rituale, des Essens, des Zubettgehens und Schlafens, des Redens, der Körperpflege, des Sich-Kleidens und all dieser nur scheinbar kleinen Dinge des Alltages. Und zum anderen ist es die Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft, die ihre eigenen Rituale und Ordnungen kennt. Kurz gesagt: Kinder brauchen Orientierung und Begleitung durch vertraute, verfügbare und verlässliche Erwachsene, damit sie sich gesund entwickeln und ihr Potenzial möglichst frei entfalten können. (Oskar Jenni, 20.5.2024)