Mit roter Farbe beschmierte Unterhosen als Zeichen für das Ausmaß der sexualisierten Gewalt der Hamas bei einer Demonstration in Rom.
Demonstration in Rom im Frühjahr gegen die sexualisierte Gewalt durch die Hamas.
IMAGO/ABACAPRESS

"Believe women", so lautet ein zentraler Slogan der MeToo-Bewegung. Wenn Frauen von erlebten Übergriffen berichten, dürften nicht reflexhaft ihre Aussagen in Zweifel gezogen werden. Für israelische Frauen gelte dieser Grundsatz jedoch nicht, kritisierten Feministinnen im Zuge der Hamas-Angriffe vom 7. Oktober 2023.

Unter dem Titel "Dinah 107", der auf die biblische Figur Dinah verweist, haben sich in Israel sechs Expertinnen zusammengeschlossen, die für Gerechtigkeit für die Opfer sexueller Gewalt am 7. Oktober kämpfen. Die Initiative sammelt systematisch Beweise für konfliktbezogene sexuelle Gewalt und vernetzt NGOs und staatliche Stellen. Mitbegründerin Sharon Zagagi-Pinhas war für eine Veranstaltung der Uno Mitte Mai in Wien – DER STANDARD hat sie zum Interview getroffen.

STANDARD: "Dinah 107" unterstützt Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt im Rahmen der brutalen Angriffe der Hamas am 7. Oktober. Warum haben Sie diese Initiative gestartet?

Zagagi-Pinhas: Die Angriffe haben uns alle in eine Art Schockstarre versetzt. Es fühlte sich an, als wäre man plötzlich in einer anderen Realität aufgewacht. Für mich war schnell klar: Ich muss etwas tun. Aber vor allem in den ersten Tagen brauchte niemand eine ehemalige Generalstaatsanwältin. Meinen Kolleginnen ging es ähnlich. Wir saßen auf Nadeln und begannen uns im eigenen Umfeld zu engagieren. Insgesamt sind wir sechs Frauen aus Justiz, Wissenschaft und der Gleichstellungspolitik, wir nutzen unsere Erfahrung und auch unsere Kontakte – und setzen alle Hebel in Bewegung, um Gerechtigkeit für die Opfer des 7. Oktober einzufordern.

STANDARD: Mit welchen Schwierigkeiten sehen Sie sich konfrontiert?

Zagagi-Pinhas: Zunächst haben wir versucht, systematisch Beweise zu sammeln. Puzzlestücke zusammenzutragen, um ein möglichst exaktes Bild davon zu zeichnen, was am 7. Oktober passiert ist. Das ist eine sehr schwierige Aufgabe. Die meisten Opfer des 7. Oktober sind tot, sie können nicht für sich selbst sprechen. Die Überlebenden sind meist schwer traumatisiert und brauchen Unterstützung, um das Erlebte zu verarbeiten. Wir befassen uns aber nicht nur mit der aktuellen Lage, sondern wollen eine langfristige Strategie entwickeln, wie die Täter zur Verantwortung gezogen und Opfer unterstützt werden können. Geschlechtsspezifische Gewalt in Konflikten hat viele Gesichter, nicht alle Formen finden sich im Strafgesetzbuch wieder – so auch in Israel. Hier kommen also enorme Herausforderungen auf den Staat zu. Außerdem wird es eine große Anzahl an Prozessen geben, auch das wird die Justiz an ihre Belastungsgrenzen bringen.

Sharon Zagagi-Pinhas war 24 Jahre lang für die israelischen Verteidigungsstreitkräften tätig – unter anderem als Generalstaatsanwältin. Die Juristin ist Expertin für die Rechte von Verbrechensopfer.
Sharon Zagagi-Pinhas war 24 Jahre lang für die israelischen Streitkräfte tätig – unter anderem als Generalstaatsanwältin. Die Juristin ist Expertin für die Rechte von Verbrechensopfern.
privat

STANDARD: Wer sind Ihre Bündnispartner?

Zagagi-Pinhas: Wir arbeiten mit staatlichen Behörden zusammen, aber genauso mit nationalen und internationalen NGOs, mit engagierten Privatpersonen. Es geht uns auch darum, Expertise zu sammeln und weiterzutragen. Nach meiner Tätigkeit für die Armee habe ich als Anwältin gearbeitet und Verbrechensopfer vertreten. Wenn Menschen, die durch ein Verbrechen traumatisiert wurden, vor Gericht gehen, erleben sie oft eine zweite Traumatisierung. Diese kann nicht gänzlich verhindert werden, aber wir müssen sie möglichst minimieren.

STANDARD: Das Verhältnis zwischen Israel und der Uno ist angespannt. Im März veröffentlichte die UN-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt in Konflikten, Pramila Patten, einen Bericht über sexuelle Gewalt während der Anschläge vom 7. Oktober. Wie schätzen Sie dessen Bedeutung ein?

Zagagi-Pinhas: Unsere Gruppe war ganz wesentlich daran beteiligt, Pramila Patten nach Israel zu holen. Wir haben uns auch vor Ort eingebracht, Treffen organisiert. Das Expert:innenteam rund um Patten hat sich durch tausende Dokumente gearbeitet, Beweismaterial gesichtet. Dieser Bericht war ein enorm wichtiger Schritt, die Vereinten Nationen haben somit anerkannt, dass während der Angriffe am 7. Oktober sexuelle Gewalt ausgeübt wurde. Pramila Patten machte in ihren Erklärungen deutlich, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass konfliktbezogene sexuelle Gewalt – einschließlich Vergewaltigungen und Gruppenvergewaltigungen – an mehreren Orten stattgefunden hat. Die Vereinten Nationen sollten ihre Arbeit nun unbedingt fortsetzen. Pramila Patten war nur für zwei Wochen in Israel, seit ihrem Besuch gibt es eine Fülle an neuem Material, neue Aussagen von befreiten Geiseln.

STANDARD: Verschiedene Stimmen in Israel kritisierten die UN Women besonders scharf – sie hätten zu spät und zu zögerlich reagiert. Stehen Sie mit der Organisation in Kontakt?

Zagagi-Pinhas: Nein, wir stehen nicht in Kontakt. Wir alle waren sehr enttäuscht von den Reaktionen der UN Women. Im Grunde war da nur ohrenbetäubendes Schweigen. Ich beschäftige mich sehr viel mit sexuellen Übergriffen und den Opfern von Verbrechen, und ich weiß, wie wichtig es ist, ihren Aussagen Glauben zu schenken. Für Israel aber scheint der Grundsatz "Believe women" nicht zu gelten. Dies Doppelmoral ist unerträglich und hat wohl antisemitische Wurzeln. Deshalb ist auch die Kampagne #MeToo_Unless_Ur_A_Jew entstanden.

STANDARD: Auch in der feministischen Bewegung existieren zahlreiche Konfliktlinien. Israelische Feministinnen und Verbündete weltweit kritisierten etwa, dass die sexuelle Gewalt des 7. Oktober am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen und am 8. März kaum Thema gewesen sei.

Zagagi-Pinhas: All das ist wirklich beunruhigend. Ich habe Bilder von den Angriffen gesehen, die dich nachts kaum schlafen lassen. Und dann gibt es Stimmen, die diese Gewalt in Zweifel ziehen oder sagen, das sei nicht passiert. Ich kann das einfach nicht verstehen. Denn eines sollte doch klar sein: Egal auf welcher Seite du stehst, egal woran du glaubst, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung müssen immer strikt verurteilt werden. Das sind grundlegende menschliche Werte. Wenn du zu sexueller Gewalt schweigst, ist das ein deutliches Warnsignal. Und ein Feminismus, der sich nur mit bestimmten Gruppen solidarisiert, ist kein Feminismus. (Brigitte Theißl, 23.5.2024)