Dass Lucky Luke seit den 1980ern nur noch einen Grashalm statt der Zigarette im Mund hat, bedauert Melanie Möller. Und kämpft mit ihrem Buch "Der entmündigte Leser" gegen die Glattgebügeltheit von Kulturerzeugnissen.“
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"Es geht ein Gespenst um im Literatur- und Kulturbetrieb", lautet der erste Satz in Melanie Möllers Buch Der entmündigte Leser. Gemeint ist damit der neue Wind von Gendern und Triggerwarnungen, Cancel-Culture, Wokeness und politischer Korrektheit – früher habe man das "Zensur" genannt, klagt die Professorin für Latinistik an der Freien Universität Berlin. Auf 240 Seiten liest man darin bekannte Beispiele von Umformulierungen, angesichts der sehr gegenwärtigen Debatte aber auch überraschend viele antike Referenzen. Es geht in der "Streitschrift" dem Untertitel gemäß um die "Freiheit der Literatur".

STANDARD: Sie befassen sich beruflich mit antiken Texten, sodass man sich erst wundert, dass Sie sich so einer aktuellen Debatte annehmen. Dann liest man in Ihrem Buch, dass auch antike Texte heute bearbeitet werden. Was wiederum überrascht, als diese Texte eh keiner mehr liest, es also egal sein könnte? Anders als bei aktuellen Bestsellern ...

Möller: Das ist in der Tat erstaunlich, man könnte denken, die kann man frei laufen lassen, weil die ja nur Bildungsbürger lesen, denen man unterstellt, dass die reflektiert genug sind. Mir scheinen sich die Hüter der antiken Schätze damit selber in die vorderste Kampffront einzumengen, um so mit ihren teilweise eher randständigen Texten auch Teil eines großen Konzerts zu werden. So nach der Idee: Wir können auch zur Aufklärung der Gesellschaft beitragen, indem wir uns von unserem Gegenstand distanzieren. Das halte ich, ehrlich gesagt, für besonders geschmacklos.

STANDARD: Was interessiert Sie an antiken Texten?

Möller: Mir war klar, dass ich eine Literaturwissenschaft studieren will. Ich bin dann in der klassischen Philologie hängengeblieben, weil diese Texte, ich will nicht sagen wilder, aber fremder waren als alle anderen. In der Liebeselegie gibt es etwa ein verstörend emanzipiertes erotisches Frauenbild. Gleichzeitig gibt es Epen mit sehr ausladenden Gewaltbeschreibungen und mit acht verschiedenen Vokabeln für Blutgemisch mit Eiter, je nach prozentualer Zusammensetzung.

STANDARD: Durchaus Sachen, die heute Gegenstand von Triggerwarnungen oder Cancel-Culture sind …

Möller: Absolut. Man kann zwar nicht sagen, dass das in der Antike kein Thema war, tatsächlich wurden Ovids oder auch Sapphos Texte wegen ihrer erotisierten Gehalte schon damals von einigen als anstößig empfunden. Literatur, die verstört, Grenzen überschreitet oder Gegenbilder von Gesellschaft zeigt, die für empfindsame Gemüter für unzumutbar gehalten werden, war immer schon im Gespräch. Aber eben nie so massiv wie heute.

STANDARD: Was ist das Wichtige an solchen Darstellungen? Geht es um Wahrhaftigkeit, Wahrheit? Kommt hier der Begriff der Katharsis ins Spiel?

Möller: Ich möchte Literatur ungern als ein Medium des Therapeutischen genutzt wissen. Dennoch ist da natürlich was dran und hat es etwas Reinigendes, wenn man die Affekte mal rauslässt, die Fantasie bis an ihre Grenzen ausreizt. Ich würde diese Texte aber lieber als Beispiele für ästhetische Offenheit sehen und dafür, dass in Gedanken alles zumutbar ist. Ich glaube, diese Sprengkraft haben wir gerade bitter nötig.

STANDARD: Sie stellen Gendern und Wokeness in die Tradition von "Zensur"...

Möller: Man sieht historisch, dass es immer dann, wenn einzelne mächtige Menschen, Institutionen oder wie jetzt eine sich selbst zur Zensur motivierende Gesellschaft den Einfluss von Kunst auf die Gemeinschaft für zu unmittelbar halten, schwierig wird und den Versuch gibt, Kunst einzuhegen, zu verbieten. Eine zu direkte Verbindung von Kunst und Gesellschaft herzustellen ist aber nie gut, die Gemengelage ist viel komplexer.

STANDARD: Warum sind diese Bestrebungen dann heute so erfolgreich? Liegt es nur an den sozialen Medien als Multiplikatoren, oder hat sich generell unsere Vorstellung davon verändert, was Kultur kann und soll?

Möller: Ich glaube, dass es dazu einen Überbau gibt, eine Sehnsucht nach einer moralischen Instanz, die alles in Maßen kontrolliert. Aber "in Maßen" ist eine Gratwanderung. Es scheint heute ein Problem zu sein, mit Freiheit umzugehen.

STANDARD: Wo sehen Sie das noch?

Möller: In allerlei wohlmeinenden Bestrebungen auch im Alltag. Ich wollte letztens nur bei meiner Bank Geld abheben, und plötzlich schreit mich der Geldautomat an, dass sich meine Bank überall auf der Welt gegen Hetz- und Hassrede einsetzt. Ich dachte mir, lasst mich doch in Ruhe, ich möchte nur mein Geld und nicht schon wieder moralisch belehrt werden.

STANDARD: Aus Ihrem Buch lassen sich drei Grundsorgen herauslesen, wenn ein Publikum vor Inhalten "beschützt" wird: die Gefahr der Geschichtsklitterung, die Bedrohung der Autonomie der Kunst und eine Verflachung der Argumentation und des Denkens.

Möller: Dass es ein bisschen albern ist, nachträglich vom hohen Ross herunter Dinge zu verbessern, als hätten wir heute die moralische Weisheit mit Löffeln gefressen, ist ja leicht einzusehen. Die Beschneidung der Autonomie der Kunst ist natürlich ungut, weil Kunst ein Freiraum ist. Die Unterschätzung von Lesern und ihrer Differenzierungsfähigkeit scheint mir am heikelsten.

STANDARD: Warum?

Möller: Klar hätte ich nichts dagegen, wenn zum Beispiel die Behördensprache vereinfacht würde, aber das liegt daran, dass Behördensprache so verwirrend ist, dass auch wir, die wir uns mit Sprache gut auskennen, sie oft nicht verstehen. Grundsätzlich aber dient Sprache ja auch der Differenzierung, und wenn man immer mit der einfachsten und glattesten Formulierung herangeht, verfälscht man Sachverhalte. Jeder sollte Zugang auch zu komplexen Dingen haben, die sollten nicht durch korrigierte Sprache verstellt werden.

STANDARD: Ist es für Sie denn egal, ob ein Fundamentalchrist in Florida Bücher in einer Schulbibliothek verbieten will – oder jemand, der hofft, dass Wörter wie "Zigeuner" nicht an nächste Generationen weitergegeben werden? Ist der edle Zweck egal, wenn ein Eingriff in Werke als Mittel gewählt wird?

Möller: Gewiss sind die Absichten unterschiedlich zu gewichten. Auch die Motive eines Fundamentalchristen mögen aus seiner Perspektive zwar vielleicht berechtigt sein, aber die kann man natürlich nicht zum allgemeineren Maßstab nehmen. Was dieser tut, ist vielleicht drastischer als der Versuch, ein Wort wie "Zigeuner" nicht weiterzugeben. Aber ich finde dieses Argument schwierig. Denn im Alltag benutzen wir diese Wörter ja öffentlich schon lange nicht mehr, und das finde ich auch in Ordnung so. Aber geht es um Literatur, wird die Reproduktionsfrage überschätzt.

STANDARD: Macht es für Sie einen Unterschied, ob ein Schwarzer oder ein Weißer fordert, dass das N-Wort nicht mehr verwendet werden soll?

Möller: Im ersten Moment würde ich sagen, ja, weil ich mich da kurz affizieren lasse. Aber das würde ich sofort wieder zurücknehmen und dann sagen: nein. Denn auf der Vernunftebene macht das keinen Unterschied. Was meine Nachbarin als Frau denkt, kann sich – und das tut es auch – fundamental von dem unterscheiden, was ich als Frau denke. So gibt es eben auch unter Menschen gleicher Hautfarben verschiedene Meinungen. Ungeachtet dessen, dass es verschiedene Hauttöne gibt und es damit eine offene Frage bleibt, wer sich dazuzählt und wer nicht.

STANDARD: Was nicht geht, ändert sich historisch. Gibt es etwas, wo Sie sagen, das geht zu Recht nicht mehr?

Möller: Bestimmte Wörter mag ich auch nicht, aber das würde ich niemals verallgemeinern. Ideologisch verblasene, politische Schriften sind natürlich immer Grenzbeispiele. Niemand braucht zum Beispiel dieses ganze antisemitisch aufgeladene Vokabular, das jetzt doch wieder in aller Munde ist. Verbote, die wirklich etwas verbessert haben, fallen mir jedoch nicht ein. Vielleicht sind aber auch Dinge verschwunden, und uns geht’s dadurch besser und wir wissen es bloß nicht.

STANDARD: Sie schreiben, dass Sie manche Frauendarstellungen als Teenager irritiert haben. Wie sind Sie mit diesen Stellen in Texten umgegangen?

Möller: Ich habe mich mal schäumender und mal gelassener echauffiert, darüber diskutiert. Aber mir wäre sicher nicht eingefallen, anzuregen, das zu entfernen. Diese Art von auch mal abstoßendem oder aufreizendem Vokabular setzt kämpferische und anarchische Energien frei, die Dinge differenzierter zu betrachten. Ich finde, das fehlt heute. Deshalb gefallen mir solche Störfälle in der Literatur gut.

STANDARD: Das braucht aktive, aufgeklärte Leser ...

Möller: Kritischen Geist kann man mit ziemlich wenigen Mitteln gerade durch Kunst wachkitzeln. Wir haben mal gelernt, dass kritisches Denken etwas Gutes ist. In letzter Zeit kommt mir das nicht so vor, und das finde ich übel.

STANDARD: Sie beklagen, moralische Aufklärung sei "einmal mehr zu einem Machtinstrument mutiert". In Deutschland wurden nach dem Angriff der Hamas auf Israel wegen Haltungen Preise aberkannt, Autorinnen ausgeladen, mit dem Entzug von Fördergeldern gedroht. Meinen Sie das?

Möller: Ja, das ist ein extremer Indikator dieser großen Verunsicherung, die desaströs ist. Es muss jeder, der irgendwo eingeladen wird, so frei sprechen können, dass Leute, denen das auf die Nerven geht, sich darüber zwar äußern, aber es nicht verhindern können. Ich erwische mich selber manchmal bei der Überlegung, ob man diesen oder jene im öffentlichen Raum noch auf einen Kaffee treffen kann. Dann mache ich es aber erst recht! Es lässt sich jedoch allenthalben eine Handlungsohnmacht beobachten, die ziemlich fatal ist. Da kann man nicht sagen, es gehe nur um ein paar Bücherchen. Die Unsicherheit ist durch die Sensibilitätsfragen sehr viel größer geworden, als es wahrscheinlich mal beabsichtigt war. Man wollte Leute hereinholen und mehr Interessen berücksichtigen, jetzt ist aber alles ziemlich durcheinandergeraten, und es werden Menschen und Texte vom Markt entfernt.

STANDARD: Symbolisch meist nur ...

Möller: Den Wert des Symbolischen würde ich nicht zu gering veranschlagen. Das symbolische Kapital dieser Auseinandersetzung will auch sorgfältig verwaltet werden. Ziel muss es sein, die Kunstfreiheit mit Klauen und Zähnen zu verteidigen.

STANDARD: Sie sprechen bei Wokeness von "Zeitgeist". Wie lange werden sich diese neuen Standards halten?

Möller: Solche Empörungen und Bewegungen ebben ja immer wieder ab. Es gibt viele Optimisten, die meinen, der Höhepunkt sei hier bereits überschritten, das sehe ich noch nicht so. Aber es bleiben ja auch Folgen, selbst wenn es abebbt, Dinge verstetigen sich dennoch und verändern ein Menschenbild, das in der Literatur mit all seinen Schwächen und Ungeheuerlichkeiten verewigt war, und es bleibt zurechtgestutzt: Lucky Luke etwa hat seit den 1980ern nur noch einen Grashalm statt der Zigarette im Mund. Das finde ich schade. Hoffentlich erhält wenigstens Jim Knopf seine Pfeife zurück.

STANDARD: Sie nennen Ihr Buch "Streitschrift", es ist mit einer gewissen Polemik geschrieben. Wie sind bisher die Reaktionen?

Möller: Die Empörung ist ja eine Haltung, eine Rolle, die ich gewissermaßen einnehme. Aber irgendwo ist sie auch authentisch, weil ich mir denke, die Angelegenheit ist dafür wichtig genug. Insgesamt sind die Reaktionen erfreulich positiv, und ich empfinde es als beglückend, dass sich offenbar viele Leute davon unterstützt fühlen und bekennen: Endlich sagt es mal eine deutlich genug.

STANDARD: Emotionalisiert das Thema die Menschen vielleicht so, weil sie sich grundsätzlich als "gut" empfinden, auch wenn sie sich nicht am Wort "dick" in einem Kinderbuch stoßen?

Möller: Es ist ja nicht alles immer schlimm, was man an beschreibenden Kategorien verwendet! Zwischen "dick" und "fett" gibt es zudem einen Unterschied. Die Leute sollten das nicht so hoch hängen. Man darf auch mal beleidigt sein, sollte sich aber selbst nicht so furchtbar ernst nehmen und auch ein bisschen mehr darüber lachen können. (Michael Wurmitzer, 25.5.2024)