Ein Mann der durch ein Fernglas blickt, vor einer Tafel voller mathematischer Berechnungen und Skizzen.
Die Vogelperspektive macht manchmal größere Zusammenhänge klar. Das gilt auch in der Mathematik.
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Viele Dinge erscheinen klarer, wenn man sie von einer höheren Ebene aus betrachtet. Auf diese Weise werden Zusammenhänge erkennbar, die sonst verborgen bleiben. Diese Regel gilt auch in der Mathematik: Immer wieder lassen sich durch einen Blick auf das große Ganze neue Verbindungen zwischen Gebieten finden, die bisher als getrennt galten. Als Lohn warten oft Lösungen für besonders hartnäckige Probleme, wie etwa im Fall des Beweises von Fermats letztem Satz durch den Briten Andrew Wiles, der sich über Jahrhunderte allen Beweisversuchen entzogen hatte, bevor Wiles ihn als Spezialfall eines viel allgemeineren Problems erkannte. Doch der fruchtbare Zugang bringt unerwartete Herausforderungen mit sich.

Eine derartige Verbindung scheinbar getrennter mathematischer Themenbereiche versuchte in den 1960er-Jahren der kanadische Mathematiker Robert Langlands. Er vermutete, dass es zwischen den Gebieten der Zahlentheorie und der sogenannten Harmonischen Analyse eine Verbindung geben könnte. Während sich die Zahlentheorie mit natürlichen Zahlen befasst, die den Beginn jeder schulischen Mathematikausbildung darstellen, ist die Harmonische Analyse eine Weiterentwicklung von Methoden, mit denen sich Saitenschwingungen analysieren lassen. Langlands vermutete eine tief liegende Verwandtschaft.

Der Mathematiker war sich seiner Sache keineswegs sicher. Er äußerte die Idee nicht öffentlich, sondern in einem Brief an seinen Kollegen André Weyl, nicht zu verwechseln mit dem oben genannten Andrew Wiles. "Wenn Sie bereit sind, dies als reine Spekulation zu lesen, wäre ich Ihnen dankbar", schrieb Langlands. "Wenn nicht, haben Sie sicher einen Papierkorb zur Hand."

Fruchtbare Spekulation

Weyl warf das Dokument nicht in den Papierkorb. Heute ist die kühne Idee als Langlands-Programm bekannt, und es stellte sich heraus, dass sich Teile der spekulativen Ideen erhärten ließen. Es ergaben sich zahlreiche mathematische Querverbindungen, etwa zur erwähnten Arbeit von Andrew Wiles über Fermats letzten Satz. Das Programm lässt sich in eine Reihe von mathematischen Vermutungen aufschlüsseln, von denen Langlands selbst einige beweisen konnte. 2018 erhielt er dafür den Abelpreis, einen der wichtigsten Mathematikpreise. Auch für einige Mathematikerkollegen erwies sich die Arbeit an dem Programm als fruchtbar. Vladimir Drinfeld von der Universität Chicago erhielt dafür ebenfalls den Abelpreis, Ngô Bảo Châu die Fieldsmedaille.

Ein alter Mann mit weißem Hemd und Hut vor einem Grabstein in einer Gartenanlage.
Der kanadische Mathematiker Robert Langlands bei einem seiner täglichen Spaziergänge auf dem Mount Royal in der Stadt Montreal im Jahr 2014. Hier besucht er das Grab des Autors Mordecai Richler.
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Doch diese Preisvergaben liegen teils bereits Jahrzehnte zurück. Eine zentrale Vermutung des Programms entzog sich erfolgreich der Lösung. Es handelt sich um einen Versuch, die Aussage der Vermutung in die Geometrie zu übersetzen. Im Mai 2024 legte ein Team um Sam Raskin von der Universität Yale eine Reihe von Arbeiten vor, die zusammen einen Beweis der Vermutung darstellen. In Summe umfasst die Publikation etwa 1000 Seiten.

Suche nach Harmonie

Es handelt sich also genau genommen nicht um einen Beweis einer der ursprünglichen Langlands-Vermutungen, doch unabhängige Fachleute zeigen sich dennoch begeistert. "Es ist das erste Mal, dass wir ein wirklich vollständiges Bild von eines Teils des Langlands-Programms bekommen, und das ist inspirierend", sagt etwa David Ben-Zvi von der Universität Texas gegenüber dem Magazin New Scientist. Er glaubt, dass man damit die wesentlichen Punkte des Programms zu fassen bekommen kann.

Allerdings stellt der Umfang der Arbeit ein Problem dar. "Es ist unmöglich, Menschen außerhalb der Mathematik die Bedeutung des Ergebnisses zu erklären", sagt Vladimir Drinfeld. "Um die Wahrheit zu sagen, es ist auch sehr schwer bis unmöglich, es Fachleuten zu erklären." Die Prüfung wird also Zeit brauchen und ist bislang nicht abgeschlossen. Noch könnte ein Fehler gefunden werden.

Hier erklärt der Mathematiker Sam Raskin seinen Beweis der geometrischen Langlands-Vermutung, nachdem er seine Verblüffung über sonderbare Muster in der Namensliste seiner Kolleginnen und Kollegen überwunden hat.
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Schwierige Monumentalbeweise

Der Beweis von Raskins Team ist nicht die erste monumentale Arbeit, die Fachleuten Kopfzerbrechen bereitet. Auch der Beweis für Fermats letzten Satz umfasste mehrere Hundert Seiten. Die Prüfung dauerte Monate und förderte einen Fehler von Wiles zutage. Die Lücke ließ sich glücklicherweise schließen.

Bei einem noch umfassenderen und komplizierteren Beweis, den der japanische Mathematiker Shin'ichi Mochizuki 2012 vorlegte, liegen die Dinge anders. Seine Arbeit um die mächtige "abc-Vermutung", führte zu einem Gelehrtenstreit, der nach wie vor anhält und wesentlich entlang nationaler Grenzen verläuft, was für die Mathematik beispiellos ist. Internationale Fachleute neigen eher zu der Ansicht, dass der Beweis lückenhaft ist, während in Japan eine Fangemeinde sich damit nicht zufriedengeben will.

Künftig werden Computermethoden solche Streitereien schlichten helfen. Ein neues Forschungsprojekt will dazu erstmals Fermats letzten Satz in Computercode übersetzen, um das computerunterstützte Prüfen mathematischer Beweise zu erproben. Das kreative Auffinden von Beweisen bleibt bis auf Weiteres ein menschliches Monopol.

Bezüge zur Physik

Ungeachtet der Herausforderungen um den Beweis der geometrischen Langlands-Vermutung erwartet Ben-Zvi, dass neue Bewegung in das Gebiet kommt. Insbesondere glaubt er, dass das Interesse von Menschen aus der Physik geweckt werden könnte. Seit 2007 ist bekannt, dass die geometrische Langlands-Vermutung eine Verbindung dorthin hat. Edward Witten und Anton Kapustin konnten zeigen, dass diese Vermutung etwas mit einem aus der Physik bekannten Prinzip zu tun hat, das S-Dualität genannt wird.

Dabei geht es um sonderbare Symmetrien in physikalischen Kräften, wie sie etwa zwischen Magnetismus und Elektrostatik bestehen. Letztere sind annähernd Spiegelbilder voneinander, was nicht nur entscheidend für das Verhalten von Licht ist, sondern auf eine tiefer liegende Ordnung hindeuten könnte. Besondere Bedeutung erlangte die S-Dualität in der Stringtheorie, wo Witten sie nutzte, um einen scheinbar undurchdringlichen Wald aus ganzen fünf konkurrierenden Stringtheorien zu durchforsten und auf eine einzige zurückzuführen.

Bis es zu echten Konsequenzen für die Physik kommt, wird aber noch etwas Zeit vergehen. "Derzeit gibt es nur eine sehr kleine Gruppe von Menschen, die wirklich alle Details verstehen können. Aber das verändert das Spiel, es verändert die gesamte Erwartungshaltung und das, was man für möglich hielt", sagt Ben-Zvi.

Ein Interview mit Robert Langlands anlässlich der Verleihung des Abelpreises.
The Abel Prize

Kritik vom Meister

Langlands selbst ist über die Anwendung in der Physik nicht glücklich, wie er im Jahr 2020 bei einem Vortrag an der Universität Oslo bekanntgab. Er stellte die Frage in den Raum, ob alle Teile des nach ihm bekannten Programms in ihrer derzeitigen Form in seinem Sinn seien, und beantwortete sie selbst mit Nein.

Er stößt sich an der nun bewiesenen geometrischen Variante der Langlands-Vermutung. Bei dem Vortrag präsentierte er eine Arbeit, an der er fünf Jahre gearbeitet hatte und die kurioserweise in russischer Sprache verfasst war, weil er immer schon einmal etwas auf Russisch habe schreiben wollen, wie er erklärt. Darin versucht er, die geometrische Formulierung zurückzunehmen und in eine Form zu bringen, die seiner ursprünglichen Intention näher kommt. Die geometrische Langlands-Vermutung und ihre physikalischen Anwendungen seien "spekulativ und nicht überzeugend".

Bei Fachleuten erzeugt diese Arbeit Ratlosigkeit. Zur Sprachbarriere kommen Verständnisprobleme, die er nicht auflösen will oder kann. Fachleuten zufolge wird sein Zugang die geometrische Langlands-Vermutung mit ihren physikalischen Anwendungen nicht ersetzen, könnte aber mit etwas Glück einen weiteren fruchtbaren Zugang zum Thema bieten.

Langlands kündigte nach seiner russischen Arbeit an, die Mathematik hinter sich zu lassen und sich "anderen, angenehmeren Dingen" zu widmen. Eine Bitte hat er noch an die Welt der Mathematik: "Wenn jemand meinen Namen von diesem Teil (der Langlands-Vermutung, Anm.) entfernen und ihm einen anderen Namen geben könnte, würde ich das sehr begrüßen." (Reinhard Kleindl, 26.5.2024)