Die Neos haben sich das Wiener Café Zartl für das Interview mit dem STANDARD ausgesucht. Das Hinterzimmer ist mit Plakaten von Zauberkünstlern und Magierkongressen dekoriert, an der Decke pickt eine einzelne Spielkarte. Helmut Brandstätter, Spitzenkandidat für die EU-Wahl, will Österreichs Neutralität vorerst nur verwandeln und nicht wegzaubern.

Helmut Brandstätter gestikuliert.
Helmut Brandstätter hält es für "realpolitisch undenkbar", die Neutralität von heute auf morgen abzuschaffen.
Heribert Corn

STANDARD: Sie haben auf die Frage, welches Tier Sie wären, geantwortet: ein Nilpferd. Das sind sehr aggressive Tiere …

Brandstätter: Nur wenn man sie reizt.

STANDARD: Was triggert Ihr inneres Nilpferd?

Brandstätter: Sehr böse werde ich, wenn jemand auf meine Familie losgeht.

STANDARD: In der Europäischen Familie gibt es mit Ländern wie Ungarn Mitglieder, die immer wieder Regeln brechen und die Konsequenzen dafür ignorieren. Wie soll man mit ihnen umgehen?

Brandstätter: Orbán ist ein berechnender, korrupter Politiker, der seinem Land schadet. Deshalb sage ich auch: Orbán kopieren heißt Österreich ruinieren. Er hat das Gesundheitssystem ruiniert, die Medien vernichtet und ist gerade dabei, die Universitäten zu zerstören. Er macht Sonderdeals mit dem Iran und China. Es gibt ein Artikel-7-Verfahren, das sich mit möglichen Sanktionen gegen Ungarn beschäftigt, aber wir müssen viel härter gegen ihn vorgehen.

STANDARD: Werden Sie Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin wählen?

Brandstätter: Schauen wir einmal, ob sie überhaupt kandidiert. Wir werden das in der Fraktion besprechen, das wird auch von den Alternativen abhängen. Aber ich entscheide alleine – das Schöne am Europäischen Parlament ist, dass es so wie bei den Neos keinen Klubzwang gibt.

STANDARD: Sie wollen die österreichische Neutralität "neu definieren" – wäre es nicht ehrlicher zu sagen: Sie wollen sie abschaffen?

Brandstätter: Sie wurde ja bereits neu definiert, das verschweigen die anderen Parteien gern. Wir haben die Verpflichtung zur Solidarität, die kein Widerspruch zur Neutralität ist. Die Neutralität kann also weiterentwickelt werden.

STANDARD: Ein neutrales Land beteiligt sich nicht militärisch an Konflikten anderer Länder, aber genau das wollen Sie doch mit einer EU-Armee erreichen.

Brandstätter: Im Neutralitätsgesetz steht nur, dass wir nicht an einem Militärbündnis teilnehmen und keine fremden Soldaten haben dürfen.

STANDARD: Und eine EU-Armee wäre kein Militärbündnis?

Brandstätter: Eine gemeinsame Armee ist erst der letzte Schritt. Zunächst sollen wir einmal gemeinsam einkaufen, das spart ein Drittel der Kosten. Das Wichtigste ist die Sicherheit der Menschen – und wir wissen, dass uns die Neutralität alleine nicht schützt. Wenn Donald Trump wieder US-Präsident wird, können wir uns auf die Nato nicht mehr verlassen.

Helmut Brandstätter tippt sich auf Stirn.
Helmut Brandstätter: "Natürlich ist es ein Problem, wenn ein Drittel des EU-Budgets in den Agrarsektor fließt."
Heribert Corn

STANDARD: Jetzt haben Sie sehr konsequent argumentiert, warum man die Neutralität abschaffen müsste.

Brandstätter: Nein, ich habe argumentiert, warum wir für die Sicherheit der Menschen in Österreich sorgen müssen. Geht es um den Begriff oder die Sicherheit – wenn das die Frage ist, bin ich für die Sicherheit.

STANDARD: Warum tun Sie sich so schwer zu sagen: Die Neutralität ist überholt?

Brandstätter: Im Moment sehe ich keinen Widerspruch zwischen Neutralität und gemeinsamer Sicherheit. Sie wurde ja auch in der Verfassung weiterentwickelt und ist in dieser Form noch nicht überholt. Sie von heute auf morgen abzuschaffen ist realpolitisch undenkbar.

STANDARD: Sie meinen, die EU soll sich um das Vereinigte Königreich "bemühen" – würden Sie die Briten wieder aufnehmen?

Brandstätter: Ich bin ganz sicher, dass die Briten in die Europäische Union zurückkommen werden. Ich glaube, sie haben inzwischen auch verstanden, dass der Brexit ein Fehler war. Die Leave-Kampagne war wirklich verlogen, und es wurden auch nachweislich einzelne Abgeordnete von Russland bestochen.

STANDARD: Ist es aber in Hinblick auf die Vorbildwirkung klug, Länder rein- und wieder rauszulassen?

Brandstätter: "Ätsch!" ist kein Argument. Noch dazu gibt es sehr viele junge Menschen, die bereuen, nicht zur Abstimmung gegangen zu sein. Heute gäbe es eine Mehrheit für eine Mitgliedschaft.

STANDARD: Sie fordern, Bildung als fünfte Grundfreiheit der EU zu verankern. Was brächte das zum Beispiel einer 16-Jährigen, die jetzt erstmals wählen darf, ganz praktisch?

Brandstätter: Meine Europabegeisterung kommt ja daher, dass ich mit Autostopp und Interrail viel reisen konnte. Deshalb ist mir ist wichtig, dass es keine finanziellen Hürden geben darf. Für Schülerinnen und Schüler, Lehrlinge und Studierende soll es ein europäisches Stipendiensystem geben. Dann hätten alle Jungen die Möglichkeit, Europa zu erfahren.

Helmut Brandstätter gestikuliert - breitet Arme aus
Helmut Brandstätter: "Ich sehe keinen Widerspruch zwischen Neutralität und gemeinsamer Sicherheit."
Heribert Corn

STANDARD: Es gibt nicht nur finanzielle Hürden: Aktuell sind 75 Prozent der Medizinstudienplätze für Menschen mit österreichischer Matura reserviert. Das wollen Sie aufheben?

Brandstätter: Da wird’s kompliziert. Alle in Österreich Medizin studieren zu lassen wäre tatsächlich schwierig. Das müssen sich die Staaten untereinander ausmachen.

90 Sekunden mit Helmut Brandstätter
In unserem Format „90 Sekunden mit“ sprechen wir mit den Spitzenkandidaten für die EU-Wahl.
DER STANDARD

STANDARD: Soll das EU-Budget sinken, gleich bleiben oder steigen?

Brandstätter: Es muss steigen, das ist allen klar. Wir brauchen eine Zukunftsquote im Budget – also mehr Geld für Bildung, Forschung und Außengrenzschutz.

STANDARD: Ungewöhnlich, dass der Spitzenkandidat einer liberalen Partei für einen stark ausgebauten Superstaat eintritt.

Brandstätter: Unternehmer und Unternehmerinnen klagen mir gegenüber eher über den Bürokratiestaat Österreich – nicht vorwiegend über die der EU. Ich sage ja nicht, dass es höhere Steuern geben soll. Wenn die EU mehr Aufgaben übernimmt, muss Österreich weniger machen.

STANDARD: Zwischen 2021 und 2027 gibt die EU 386,6 Milliarden Euro für Förderungen in der Landwirtschaft aus. Soll das weniger werden?

Brandstätter: Als die Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde, ging es bei diesen Förderungen um Versorgungssicherheit. Das ist ein komplexer Bereich, mit dem ich mich im Detail noch nicht beschäftigt habe.

STANDARD: Dieses hohe Fördervolumen führt ja de facto zu einer Semi-Planwirtschaft. Das kann Ihnen als Liberaler doch nicht recht sein.

Brandstätter: Natürlich ist es ein Problem, wenn ein Drittel des EU-Budgets in den Agrarsektor fließt. Welche Schritte hier nötig sind? Ich kann’s nicht sagen. Es wäre gut, wenn es mehr Politiker gäbe, die ehrlich sagen, wenn sie sich nicht auskennen.

STANDARD: Ich frage ja nur nach der Richtung: Soll es künftig weniger Fördervolumen für die Landwirtschaft geben?

Brandstätter: Ich kann es nicht sagen.

STANDARD: Wenn ein Produkt oder eine Dienstleistung in einem Mitgliedsstaat genehmigt oder zugelassen ist, soll es in allen Mitgliedsstaaten erlaubt sein, fordern die Neos. Würde das nicht die teils hohen österreichischen Standards gefährden?

Brandstätter: Wenn wir den Binnenmarkt vollenden wollen, müssen wir auch aufeinander vertrauen. Dann können einzelne Staaten sagen: Wir haben da höhere Standards, reden wir darüber. Aber wir reden von Bürokratie – machen wir’s ein bisschen einfacher.

STANDARD: Wie viele Perioden wollen Sie im EP bleiben?

Brandstätter: Ich freue mich, jetzt kandidieren zu können. Mein Alter (69, Anm.) ist bekannt. Schauen wir, was in fünf Jahren ist.

Helmut Brandstätter beim Interview. 
Helmut Brandstätter sagt von sich selbst, er bringe "sehr viel Erfahrung im internationalen, europäischen Bereich" mit.
Heribert Corn

STANDARD: Das Europäische Parlament ist hochkomplex, und es dauert Jahre, bis man sich dort als Abgeordneter zurechtfindet. Ist es sinnvoll, nur für eine Periode dorthin zu gehen?

Brandstätter: Vielleicht werden es ja zwei. Was ich mitbringe, ist sehr viel Erfahrung im internationalen, europäischen Bereich. Ich fühle mich eigentlich ganz gut vorbereitet.

STANDARD: Mit Othmar Karas wäre ein extrem erfahrener Europapolitiker am Markt gewesen, der gut zu den Neos passt. Warum ist es nicht gelungen, ihn zum Spitzenkandidaten zu machen?

Brandstätter: Ich kenne ihn seit Jugendtagen und habe größten Respekt vor seiner Arbeit. Warum ihn die ÖVP nicht bekniet hat, noch einmal zu kandidieren, verstehe ich nicht. Ein fliegender Wechsel wäre weder für die Neos noch Othmar Karas infrage gekommen. (INTERVIEW: Sebastian Fellner, 24.5.2024)