Neue Nutzungen alter Einrichtungen in Wien.
Architekturtage

Mögest du in interessanten Zeiten leben, lautet der bekannte chinesische Fluch. Dass wir gerade solche erleben, dürfte unstrittig sein. Auch die Architektur ist im Polykrisenmodus. Denn die Bauwirtschaft ist für 35 bis 40 Prozent der globalen Treibhausemissionen verantwortlich, sie produziert Unmengen von Müll, und viele der angepriesenen Lösungen sind bei näherer Betrachtung keine. Wenn sich hochwertige Baustoffe als Straßenbelag wiederfinden, hat das nichts mit Recycling zu tun. Die Klimakatastrophe bedeutet daher für die Architektur nicht weniger als eine Identitätskrise. Denn schließlich fußt ihr Selbstverständnis auf dem Bauen von neuen, schönen Dingen, und jenes von Bauherren und Politikern ebenso. Denn diese wollen Neues aus dem vermeintlichen Nichts schaffen und auf ihre geliebten Spatenstich- und Eröffnungsfotos nicht verzichten. Und wurden nicht erst gestern die Prachtbauten sogenannter Stararchitekten angepriesen, ohne Erwähnung, dass all die darin verbauten schönen Materialien irgendwo auf der Welt extrahiert und herumtransportiert werden mussten?

Soll das denn alles nicht mehr gehen? Tja: nein. Eigentlich nicht. Zumindest nicht so wie bisher. Die Abriss-und-Neubau-Kultur muss, da sind sich viele einig, einer Umbau- und Reparaturkultur weichen. Diese ist im Grunde nichts Neues und war vor der Ära fossiler Brennstoffe die Normalität. Wir haben nur im Rausch des industriellen Wachstums die Handwerkstechniken vergessen, mit denen man Häuser umbaut und repariert, und sehen in Alterungsspuren nur Fehler und Mängel. Eine Bauwende bedeutet also alles andere als resigniertes Nichtstun, sondern Wiederentdecken, Lernen, Ausprobieren, Austauschen, ins Gespräch kommen. Genau das tun die Architekturtage 2024 in den österreichischen Bundesländern (7. bis 8. Juni). Sie stehen dieses Jahr unter dem frechen Motto "Geht’s noch?" Die Antwort darauf lautet: So wie bisher geht’s nicht. Aber es geht sehr viel.

Marie-Theres Okresek (47) ist Gründungspartnerin des interdisziplinären Planungskollektivs Bauchplan mit Sitz in Wien, München und Köln. Sie wurde u. a. mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2018 ausgezeichnet.
Fabian Gasperl

Marie-Theres Okresek ist Botschafterin der Architekturtage 2024. Die Bauwirtschaft, meint die Landschaftsarchitektin, muss in Zukunft in mehr Währungen rechnen als nur in Euro – unter anderem auch in Boden, Kilometern und Biodiversität.

STANDARD: Das Programm der heurigen Architekturtage stellt eine rhetorische Frage, und das ist auch meine Einstiegsfrage an Sie: "Geht’s noch?"

Okresek: Nein, es geht definitiv nicht mehr! Wir müssen dringend raus aus dem wohlvertrauten, scheinbar abgesicherten und doch längst veralteten Modus.

STANDARD: Das Programm steht unter dem Motto "Planen und Bauen für eine Gesellschaft im Umbruch". Wie soll dieser Umbruch aussehen?

Okresek: Der Bausektor verursacht 35 bis 40 Prozent der CO2-Emissionen und gilt zudem als einer der größten Müllproduzenten der Welt. Hinzu kommt, dass wir mit der endlichen Ressource Grund und Boden so umgehen, als ob es kein Morgen gäbe. Vor allem in Österreich. Wir sind Europameister in Sachen Bodenversiegelung! Ein Rekord, auf den wir nicht stolz sein dürfen. Und wenn ich dann höre, wie die ÖVP bei der EU-Wahl sagt: "Klimaschutz, schön und gut, aber wir müssen auch an die Wirtschaft denken!", dann kann ich nur sagen: Liebe ÖVP, wenn der Planet kaputt ist, dann geht auch eure Wirtschaft flöten! Wir müssen komplett umdenken.

STANDARD: Und zwar wie?

Okresek: Die monetäre Rendite darf nicht mehr auf Platz eins sein. Wir müssen auch in anderen Währungen denken und zu rechnen beginnen – in Boden, Biodiversität, Nahrungssouveränität, CO2, Stickstoff, zurückgelegten Warenkilometern und sozialen Wechselwirkungen. Und wir müssen dringend die Versiegelung eindämmen – und langfristig stoppen.

STANDARD: Wien wächst konstant. Was schlagen Sie vor, um die Bevölkerungszunahme trotz Versiegelungsstopp zu bewerkstelligen?

Okresek: Ideen gibt es viele. Berlin beispielsweise hat sich selbst bis 2030 eine Netto-Null-Versiegelung auferlegt. Das heißt: Ab 2030 muss für jeden Quadratmeter Land, der versiegelt wird, an anderer Stelle ein Quadratmeter Land entsiegelt werden. Eine Netto-Null eben. Deutschland hat überhaupt eine viel offensivere Stadtplanungspolitik als Österreich: Fördergelder für Projekte in der Architektur und im Städtebau sind dort stets an Kriterien gekoppelt. Es fließt also nur dann Geld, wenn der Antragsteller gewisse urbane, ökologische und baukulturelle Qualitäten erfüllt. Das führt zu einer differenzierteren Auseinandersetzung in der Planung und damit auch zu mehr Qualität im ganzen Land. Österreich, bitte nachmachen!

STANDARD: Wenn wir uns daran ein Beispiel nehmen und es schaffen, in Sachen Stadtplanung, Raumordnung und Klimapolitik umzudenken: Wie werden wir in 50 Jahren leben und wohnen?

Okresek: Glücklich. Wohnen am Gürtel, das wird schon bald eine 1a-Adresse mit Ausblick auf einen langen, linearen Park sein.

STANDARD: Und wenn wir die Kurve nicht kratzen?

Okresek: Dann sind die Polkappen geschmolzen, die aufgetauten Permafrostböden setzen Unmengen von Methan frei, das um ein Zigfaches klimaschädlicher ist als CO2, und dann wären die Tropensommer in Österreich schon fast ein nebensächliches Problem. Das wäre Armageddon.

STANDARD: Die Architekturtage 2024 sollen zum Umdenken anregen. Wie lautet Ihr größter Wunsch an den Gesetzgeber?

Okresek: Bitte nicht nur an die Planungs- und Bauzeit bis zur Fertigstellung denken, sondern den gesamten Lebenszyklus betrachten und die Lebenszyklusbilanz gesetzlich verankern! Was anderes können wir uns nicht leisten.

Vorarlberg: Eine ruhige Kugel schieben

Im Ländle geht’s sinnlich zur Sache. Auf dem Kultursteg in Bludenz beispielsweise wird Architekt und Bauforscher Wolfgang Schwarzmann einen Vortrag über Handwerk und Technologie halten. Das Publikum kann sich, während es den Worten auf rationaler Ebene lauscht, zugleich in Sinnlichkeit üben: Auf Anweisung des syrisch-australischen Lehmbauexperten Sami Akkach werden aus unterschiedlichen Lehmböden in Rot, Grün und Ocker kleine Lehmkugeln geformt, die am Ende des Vortrags ihre Rollfähigkeit beweisen sollen. Auch bei allen anderen Veranstaltungen geht es um das Crossover aus Hirn, Hand und Herz. Auf dem Programm stehen u. a. Zero-Waste-Design, nachhaltiges Slow Food von Brini Fetz, Gespräche mit Landwirten, Bierbrauern und Restauratorinnen sowie ein Dialog mit dem Lehmbauroboter Roberta in der Werkstatt von Martin Rauch.

Tirol: Schichten und Geschichten

Eine der ältesten Städte Tirols hat sich das Architekturtage-Team um das aut (Architektur und Tirol) als einen der Programmschwerpunkte herausgesucht: das reiche und stolze Hall in Tirol. Über neun Stationen schlängelt sich der Parcours durch die Gemäuer, dabei lässt sich den vielen Schichten und Jahresringen nachspüren, um die der Ort gewachsen ist und weiterwächst. Startpunkt der Tour: die Lendwirtschaft, ein Familienbauernhof, der mit Lehm, Holz, Kalk und Stroh umgebaut wurde. Es folgen: ein Museum in einem Bauernhaus, eine Galerie in einer Gaststube, ein Hotel in einem Stadthaus, in neuem altem Glanz strahlende Wohnräume und Kirchenräume und das barocke Guarinoni-Haus, das nach langem Leerstand wieder aufgeweckt wird. Ein Wandeln auf den Spuren des ewigen Wandels.

Tirol, Lendwirtschaft
Schmoelz

Salzburg: Das Wesen der Dinge begreifen

Das Schild "Bitte nicht berühren" dürfte man im Architekturhaus Salzburg vergeblich suchen. Denn die Ausstellung Material Affairs der Initiative Architektur lädt dazu ein, sich ohne Berührungsängste mit Baumaterialien zu beschäftigen. Sie ist das Ergebnis einer Kooperation mit Forschungsinstituten, die umweltrelevante Daten zu Werkstoffen vom Aluminiumblech bis zum Zementziegel sammelten. Denn die Frage, wie man klimagerecht baut, beschäftigt uns Tag für Tag und ist auch für Architekten nicht leicht zu beantworten. Damit sich das ändert, wird in Salzburg bei den Architekturtagen zu mehreren Workshops geladen, in denen Kinder und Erwachsene unter Anleitung von Fachleuten lernen, den CO₂-Fußabdruck von Lehm, Holz und Zement richtig zu bestimmen. Fortbildung zum Angreifen.

Kärnten: Leer im Lokal, tot im Kukuruz

Kärnten ist das einzige Bundesland, das sich in einem kontinuierlichen Schrumpfungsprozess befindet. Architektin Lore Stangl von der Kooperative Metatektur hat sich mit Abwanderung und städtischem Leerstand beschäftigt und zeigt am Beispiel von Feldkirchen (15.000 Einwohner) Anregungen für die Nachnutzung von Altbauten und ausgestorbenen Geschäftslokalen. Währenddessen bauen Abel & Abel Architekten – nicht weniger morbid – im Garten der Klagenfurter Domkirche gerade einen Bio-Friedhof, auf dem man in einer Maisstärke-Urne langsam zu Wurmfutter wird. Auf dem Programm steht eine Besichtigung der Baustelle. Braucht man etwas Aufheiterung: Radio Kärnten wird zwei Tage live aus dem Architekturhaus Kärnten senden. Am 6. und 7. Juni geht es um nichts anderes als Bauen, Wohnen und verantwortungsvolle Lebensraumgestaltung.

Oberösterreich: Zug um Zug wiederverwenden

Ried im Innkreis hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und vor einigen Jahren einen neuen Stadtentwicklungsprozess initiiert. Im Fokus stehen Mobilität, Begegnungszonen, Leerstandsmanagement und Partizipation mit der Bevölkerung. Nun stehen die nächsten Schritte auf dem Programm: zirkuläres Bauen, Herstellen von Stadtmöbeln aus recycelten Baustoffen und Gemeinschaftswohnprojekte in der Rieder Innenstadt. Mit Bestandsnutzung und Kreislaufwirtschaft beschäftigt man sich auch in Linz, Steyr, Haslach, Kirchham und Stadl-Paura: In Zusammenarbeit mit den Materialnomaden wird gerade ein Siedlungshaus aus den 1950er-Jahren umgebaut und aufgepäppelt. Sie kennen noch die Lüftungsgitter aus den ÖBB-Regionalzügen? Die führen schon bald ein zweites Leben als Fassadenelemente.

Die Giesserei in Ried im Innkreis.
Die Giesserei Ried

Steiermark: Landpartien und Städtepartner

Aussifahr’n und einischau’n heißt es in der Steiermark bei den Architekturtagen. Gleich sieben Landpartien veranstaltet der Verein Baukultur Steiermark in Kooperation mit dem Haus der Architektur (HDA) Graz. Gleich bei mehreren davon heißt es zudem aufigeh’n und obischau’n, nämlich von den Gipfeln des Dachsteins und Poguschs und von der brandneuen Aussichtswarte Demmerkogel in der Südweststeiermark. Architektonische Gustostückerln finden sich in diesem Bundesland aber auch in vielen versteckten Tälern und Winkeln, gleichzeitig wird den Veränderungen der Kulturlandschaft nachgespürt. In Graz kümmert sich das HDA derweil um Großstädtisches und nutzt das 60. Jubiläum der Städtepartnerschaft mit dem niederländischen Groningen, um sich von dortigen Planerinnen in einer Ausstellung ab 13. Juni Anregungen für eine kluge und nachhaltige Stadtentwicklung zu holen.

Wien: Stadtspaziergang auf dem Holzweg

Gestern Polizeistation, nicht von sonderlicher Schönheit gekrönt, wohlgemerkt, heute ein Ort mit Melange, Wiener Schnitzel und appetitlicher Aufmachung. Der kleine Pavillon inmitten des Pratersterns, eine Dependance des famosen Café Engländer, ist der perfekte Startpunkt für den Stadtspaziergang am Freitagnachmittag. Von 14 bis 19 Uhr heißt es Gehen und Stehen, Zuhören und Reden, und zwar zu unterschiedlichen Themen der Zirkularität. In Form von kurzen Parklet-Lectures werden Lesungen, Interviews und Kurzvorträge zum Besten gegeben. Auch am Samstag kann man sich die Beine in den Bauch treten, und zwar bei einer fuß-, aber keineswegs beiläufigen Erkundung des ehemaligen Nordwestbahnhofs. Auf dem Programm steht nichts Geringeres als die nachhaltige Verwertung und Bebauung dieses allerletzten, 44 Hektar großen innerstädtischen Stadtentwicklungsgebiets. Ergänzt wird das Wiener Architekturtage-Menü von Open Studios, diversen Projektführungen und zwei großen Podiumsdiskussionen. Unter dem schönen Titel "Der zweite Wald" geht es um einen sinnvollen, nachhaltigen und klimaverantwortlichen Umgang mit Holzbau und dem Wald als Ökosystem.

Niederösterreich: Last Exit St. Pölten

So viel ist derzeit von Krisen die Rede, dass man schon ganz verzagen möchte. Dabei lassen sich Auswege finden, man muss sie nur suchen. Zum Beispiel in St. Pölten, wo Sibylle Bader für das Architekturnetzwerk Orte Niederösterreich eine Escape-Tour konzipiert hat. Über sechs Stationen findet man in dieser Gaming-Experience Antworten auf die Frage "Wie kommen wir hier wieder raus?". Nämlich: Kreislaufwirtschaft, Kühlung, Verteilung des Straßenraums, Bodenverbrauch, Bürgerbeteiligung oder Umbau. Wie es sich für ein Spiel gehört, gibt es als Anreiz sogar echte Preise zu gewinnen. Wem das zu aufreibend ist, der darf trotzdem nach St. Pölten kommen und bei der Visite auf dem Domplatz oder bei der Baustellenführung auf dem Promenadenring miterleben, wie sich die einst als gesichtslos geschmähte Landeshauptstadt herausputzt.

Ein Idyll in St. Pölten

Burgenland: Tauschbörse für Baustoffe

Wie funktioniert Kreislaufwirtschaft am Bau? Eigentlich ganz einfach. Denn vieles von dem, was heute als Abfall gilt, ist gar keiner. Was also tun? Man könnte die vielen Bau- und Wertstoffhöfe als Umbauhöfe definieren, auf denen Türen, Fenster oder Fliesen wieder ein neues Zuhause finden. Genau das tat das Architekturteam Asphalt Kollektiv im Auftrag des Veranstalters Architektur Raumburgenland und in Kooperation mit dem Burgenländischen Müllverband (BMV). Als spielerisches Pop-up, investigativ und performativ. Das Ergebnis dieser Feldforschung ist im Zuge der Architekturtage als Ausstellung in der Architekturgalerie Eisenstadt zu sehen. Auch sonst widmet sich das Burgenland der Bausubstanz – mit Workshops für Lehmbau und Streckhof-Sanierung. Kurz: eine handfeste Weiterbildung fürs Weiterbauen. (Maik Novotny, Wojciech Czaja, 23.5.2024)