Ich starre auf einen Teller mit Suppe, in dem sich die verschneite Dachsteingruppe spiegelt. Wenn die in Altaussee aufgewachsene Barbara Frischmuth als Kind nicht aufaß, versuchte ihre Mutter sie mit dem Suppe-Gruppe-Reim zum Auslöffeln zu animieren.

Dann lade ich mir das Krautfleckerln-Rezept aus Friedrich Torbergs Roman Tante Jolesch aufs Handy und erfahre, dass Hermann Brochs Eltern zu ihrer Hochzeit Forelle und Fasan speisten. Im neu gestalteten Altausseer Literaturmuseum erklingt auch Torbergs Originalstimme, und durchs Fenster erblicke ich die ehemalige Unterkunft des Schriftstellers. Diese Villa befand sich vorerst im Besitz der Familie Binzer, wohin auch der Bruder Kaiser Franz Josefs, Maximilian, zu Besuch kam. Der spätere Herrscher über Mexiko fühlte sich als Künstler und Forscher, verfasste Gedichte. Von Baronin Binzer ließ er seine Verse lektorieren, obwohl er "blutwenig Talent zum Dichten" hatte, wie er selbst anmerkte.

In dieser prachtvollen Kulisse trug der Alpingendarm Material über literarisches Treiben vor Ort zusammen und verlor bei einem Überfall 1984 sein Leben.
IMAGO/Rainer Mirau

Ich folge seinen Schriftzeichen, die für das schmale Blatt viel zu ausschweifend sind, manchmal haben nur vier Wörter in einer Zeile Platz. Der Kaiserliche brauchte viel Raum, auch auf Papier. 1919 erwirbt der jüdische Geschäftsmann Ernst Königsgarten die Binzer-Villa. Sein Schicksal steht beispielhaft für Geschehnisse während der Machtübernahme der Nationalsozialisten, als Häuser ehemaliger Sommerfrischler geplündert und "arisiert" wurden. Königsgarten wurde 1942 im KZ Theresienstadt ermordet. Friedrich Torberg konnte rechtzeitig fliehen und verbrachte nach seiner Rückkehr aus dem Exil jahrelang Zeit zum Schreiben in der Villa Königsgarten, die Thermoskaffeekanne immer im Anschlag. Aus den USA hatte der Autor noch sehnsüchtige Gedichte geschrieben. Für viele Vertriebene, etwa Gina Kaus, Hilde Spiel, bildete besonders das Salzkammergut eine Projektionsfläche für das verlorene und vermeintlich unbeschwerte Leben vor dem Einzug der Nazis.

Zeuge heller und dunkler Seiten

All das kann ich beim Besuch in Altaussee erfahren, weil ein einziger Mensch in den 1970er-Jahren begann, Material für ein Museum zu sammeln: Alois Mayrhuber, mein Großonkel, war Zeuge der hellen und der dunklen Seiten dieser vielbeschriebenen Region. Während ich – gegen den Willen der Familie – studierte, erzählte mir meine Mutter wiederholt von diesem Verwandten, der im Ausseerland als Gendarm tätig war und die Aufenthalte bekannter Autoren dort dokumentierte.

So begeistert Mutter davon war, so nichtig schien mir das damals. Inzwischen frage ich mich, wie es kam, dass ein einzelner fachfremder Mensch durch sein Interesse derart viel in Bewegung brachte, und welches Engagement nötig war, um mit Verlagen zu korrespondieren, auf Familienspaziergängen ständig mit Notizzetteln unterwegs, um Einheimische zu befragen und so das Wissen der Dorfgemeinschaft um die fremden Besucher aufzugreifen.

Und das alles vor Internet und Wikipedia! Von einem Mann, der beruflich ortsgebunden war, keine Archive und Bibliotheken nutzen konnte und der dennoch die Fama der Region jenseits von Pfeiferl, Lederhosen und Salz erweiterte.

Trachtenjacken und Zopfpullover

Diesem Alois Mayrhuber ist nun eine Vitrine im Museum gewidmet, das seit 2024 interaktiver strukturiert und mit Schautafeln auch in englischer Sprache versehen ist. Besonders dem heimischen Maler Horst K. Jandl wird dort viel Raum gegeben. Er malte eine Berglandschaft an Wand und Decke, steuerte eine großformatige Zeichnung bei, in der prominente Besucher verschiedener Epochen vereint sind. Durchs Fenster schaut noch der junge Brandauer. In der Jandl-Höhle befindet sich auch ein vergrößertes Foto von Richard Strauss samt Partitur der Alpensinfonie, zu der ihn der Aufstieg auf den Loser inspiriert haben könnte.

Im Video erzählt Maler Jandl, der die Villa Binzer/Königsgarten 1979 kaufte, wie er bei der täglichen Berührung des Treppengeländers die Aura Bruno Kreiskys zu spüren meint, der im Haus zu Gast war. Jandl fertigte eine Zeichnung vom Künstlerstammtisch, dem mit visuellen Eindrücken aus dem heutigen Gasthaus Berndl entsprochen wird, Männer in von ihren Frauen gestrickten Trachtenjacken und Zopfpullovern beim täglichen Bier.

Auf den Schautafeln im Museum finden sich auch Informationen zu einer der wenigen Schriftstellerinnen, Marta Karlweis, die zwar mit Jakob Wassermann, einem Bestsellerautor seiner Zeit, verheiratet war, jedoch mit eigenen Werken, etwa Der österreichische Don Juan bekanntwurde. Die beiden verliebten sich in Altaussee, wo sie mit ihren Familien urlaubten, und verbrachten von da an ihre Sommer in der nach Wassermann benannten Villa bis zu Jakobs Tod.

Vergessenes Werk

Der Anschluss Österreichs trieb Karlweis aus dem Land, ihr Werk wurde vergessen. Auf Betreiben des Germanisten Johann Sonnleitner wurden mittlerweile aber einige ihrer Romane neu aufgelegt. Im Museum erfahre ich auch, dass sich Hermann Broch um die Heizbarkeit seiner Altausseer Unterkunft sorgte, was jeder versteht, der je die heftigen Wetterwechsel dort erlebte. Dann kam es schlimmer. 1938 wurde Broch von der Gestapo verhaftet. Der Briefträger hatte ihn als Leser der linken Zeitschrift Das Wort denunziert.

Drei Wochen verbrachte Broch in einer Gefängniszelle in Bad Aussee, in ständiger Ungewissheit, ob er überleben würde. Dieser Terror soll die Intensität seines Werks Der Tod des Vergil geschärft haben. Die groteske Beschreibung einer Bergwelt und ihrer Bewohner in Brochs Roman Die Verzauberung könnte ebenfalls von Eindrücken seiner Aufenthalte in der Ausseer Gegend herstammen.

All diese Spuren hat Alois Mayrhuber zusammengetragen, und ich staune. Wer war dieser Mann, der nie ein Gymnasium besuchte, in seiner Freizeit mit Prominenten und literarischen Institutionen kommunizierte, um damit dem Ausseerland ein künstlerisches Flair zu verleihen bzw. die Erinnerung daran, dass Künstler hier Besonderes erfühlten?

Alpingendarm Alois

Sein Vater arbeitete als Schrankenwärter, Alois wuchs in einer Familie mit neun Geschwistern auf. Meine Großmutter wurde als kleines Mädchen einem kinderlosen Ehepaar überlassen, wo sie zwar das Privileg hatte, Einzelkind zu sein, die Trennung von der Familie jedoch nie überwinden konnte. Alois erlitt im Zweiten Weltkrieg einen Lungensteckschuss, den er überlebte, besuchte die Gendarmerieschule, durchlief die Sonderausbildung zum Alpingendarm, war sommers auch für Bergrettung und winters für Vorfälle auf den Skipisten zuständig.

Zu sammeln begann er früh, anfangs Briefmarken, Postkarten und Kuverts. Sein kriminalistisches Gespür mag bei späteren Recherchen geholfen haben. Da sich der Gendarmerieposten in Bad Aussee in den 1970ern gegenüber dem Bezirksgericht befand, konnte Alois dort Grundbücher einsehen, Ortsgeschichte und Besitzverhältnisse der Villen erforschen.

Gästelisten und Gästebücher

Er studierte Gästelisten von Hotels, Gästebücher in Privathäusern, auf der Suche nach Präsenzen und Indizien, ließ sich wissenschaftliche Arbeiten kopieren, schrieb an amerikanische Universitätsprofessoren, die zu Exilautoren forschten, bat um deren Adressen, trieb vergriffene Bücher auf, indem er sich an Verlage und Lektoren wandte.

Bücher, die den Verjagten oft selbst verloren gegangen waren. Wie dem in San Francisco lebenden Paul Elbogen, der nur mehr ein Exemplar eines einzigen von ihm verfassten Romans besaß. 1977 nennt Mayrhuber in einem Brief an ihn das Projekt noch "Heimatmuseum mit Schwerpunkt auf Schriftsteller und Künstler". Dabei war der Begriff von Heimat belastet durch die Nazi-Geschichte. Noch dazu wurde jüdischen Künstlern dieses Heimatgefühl im Salzkammergut früh abgesprochen. Bereits 1921 rühmt sich der Fremdenverkehrsort Mattsee, dem Komponisten Arnold Schönberg so wie anderen jüdischen Feriengästen ihren Aufenthalt untersagt zu haben, und wirbt mit dem Etikett "judenfreier Sommerfrische".

Im von Alois Mayrhuber erstellten Archiv findet sich denn auch Material zu zwielichtigen Gestalten, wie dem SS-Offizier Wilhelm Höttl, dem es gelang, sich nach dem Krieg von Schuld reinzuwaschen und eine angesehene bürgerliche Existenz zu führen. Einige Zeit arbeitete er für den amerikanischen Geheimdienst – spioniert hatte er schon im Dienste der Nazis –, später trat er gar als (zweifelhafter) Zeitzeuge, unter anderem im Eichmann-Prozess auf.

Erboste Reaktion

Doch nicht alle wollten vergessen. Auf einer an den "Fremdenverkehr Altaussee" adressierten Karte findet sich die erboste Reaktion auf eine TV-Sendung, in der Höttl anscheinend seine Version der Geschehnisse verkündet hatte. Die Feriengäste schreiben: "Wir werden unseren Urlaub nicht mehr in Österreich verbringen, Altaussee wird es nicht mehr geben für uns."

Der exilierte Jude Paul Elbogen greift in einem Brief den Begriff Heimat auf und spielt ihn weiter, indem er betont, dass Altaussee nach Wien zwar seine zweite Heimat wurde, da er als Kind seine Sommer dort verbracht hatte, Florenz jedoch seine dritte und Kalifornien seine vierte. Er schildert ein bewegtes Leben mehrfacher Fluchten und Internierungen.

Mayrhuber antwortet mitfühlend: "Es ist doch kaum vorstellbar, was manche Menschen in ihrem Leben durchmachen mussten, ohne dass sie selbst etwas dafür können." In der Folge entwickelt sich so etwas wie eine Brieffreundschaft zwischen den beiden. Elbogen staunt über Mayrhubers "gewandten und nicht im Geringsten ‚provinziellen‘ Stil". Als Mayrhuber einen von ihm verfassten Artikel zu Elbogen veröffentlicht, schreibt dieser: "Ich bin wahrhaft gerührt." 1979 benennt Alois in einem Brief Probleme des Literaturmuseums. Es gebe zu wenig Platz, um alle Fundstücke auszustellen, und die finanziellen Mittel seien beschränkt: "Neben diesen ökonomischen Problemen ist es letztlich auch immer wieder die Zeit, weil es sich bei unserer Arbeit um ein ‚Hobby‘ handelt, das neben dem beruflichen und familiären Alltag betrieben wird, und letzten Endes doch alles auf mich allein zurückfällt."

Leidenschaft für Literatur

Bei Durchsicht dieser Fülle an Material stellt sich Bewunderung für Mayrhubers Umtriebigkeit ein, und ich fühle mich diesem Verwandten, den ich persönlich nie kennenlernte, verbunden. Da folgte einer aus meiner Familie seiner Leidenschaft für Literatur und Geschichte, wurde so zum Chronisten, Ausbildung hin oder her. Der um eine Generation ältere und reisewütige Elbogen sollte seinen Brieffreund schließlich überleben. Im Februar 1984 wird der Gendarm "zum Tod eingeteilt", wie seine Frau später formuliert. Alois springt für einen Kollegen ein, um den wöchentlichen Geldtransport zum Bahnhof Bad Aussee zu begleiten. Ein einheimischer Taxiunternehmer, der diese Routine kennt, will an das Geld, zückt seine Waffe. Mayrhuber versucht anscheinend zu beschwichtigen, aber der Räuber lässt sich nicht abbringen von seinem Plan und feuert tödliche Schüsse auf ihn und den Postbeamten Karl Amon.

Sie schreiben mit Liebe

Nach dem Ableben von Mayrhubers Frau wurde das Familienhaus verkauft, heute sind dort Ferienwohnungen zu mieten. Schräg gegenüber trägt ein Weg Mayrhubers Namen. Um dieses Benennen von Straßen als Erinnerung an Menschen, die bedeutend für Altaussee waren, hatte Alois sich genauso gekümmert, wie aus seinen Briefen ersichtlich ist. So wurden unter anderem Jakob Wassermann und dessen Sohn geehrt. Die Witwe von Charles Wassermann bedankt sich auch für einen Aufsatz, von denen Alois Mayrhuber laufend welche in Lokalzeitungen veröffentlichte, mit den Worten: "Sie sind nicht nur genau informiert, ich habe das Gefühl, Sie schreiben mit Liebe."

Eine Publikation seiner Texte, zusammengefasst in einem Buch, hat Alois nicht mehr erlebt. Sie erschien ein Jahr nach seinem Tod unter dem Titel Künstler im Ausseerland. Weil Mayrhuber dazu beitrug, die ins Exil getriebenen, jüdischen Schriftsteller wieder ins Bewusstsein des Ausseerlands zu bringen, wurde als Dank ein Baum in Israel für ihn gepflanzt. Bis heute ist Barbara Frischmuth Schirmherrin des ehrenamtlich betriebenen Literaturmuseums. (Sabine Scholl, 25.5.2024)