Arztpraxis
Bis Patientinnen und Patienten überhaupt ins Vorzimmer einer Ordination vorgelassen werden, kann es dauern: Anekdoten über wochen- und monatelanges Warten auf Termine decken sich mit Zahlen der Ärztekammer.Doch diese zeigen nicht das gesamte Bild.
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Es begann mit einem leichten Kribbeln in der Fußsohle. Anfangs hatte sich Paul S. nicht viel dabei gedacht, doch als das seltsame Gefühl in einen immer stärkeren Schmerz überging, suchte er nach zwei, drei Wochen schließlich seine Hausärztin auf. Dieser waren die Symptome sehr suspekt, sie riet zu einem Termin bei einem fachkundigen Spezialisten. Da aber stieß S. an die Grenzen des Systems.

Wie es für durchschnittliche Bürger auf der Hand liegt, hoffte der Patient erst einmal auf eine Behandlung auf Kosten der Krankenkasse. Die hilfsbereite Hausärztin habe bei verschiedenen Neurologen um eine baldige Untersuchung angefragt, erzählt S. – und sei abgeblitzt. Auch das Krankenhaus Rankweil habe den nächsten Termin erst in vier bis fünf Wochen angeboten. Solange keine motorischen Ausfälle aufträten, habe es geheißen, handle es sich um keinen Notfall.

Bittere Diagnose

Statt zu warten, ging S. auf Rat der Allgemeinmedizinerin zu einem Wahlarzt ohne Kassenvertrag. Binnen vier Tagen habe er nicht nur die Untersuchung, sondern bereits auch ein MRT absolviert – mit dem Verdacht auf multiple Sklerose (MS) als Ergebnis. Nun – die Gefühlsstörungen hätten bereits bis zur Hüfte gereicht – sei er als Notfallpatient in der Klinik Rankweil aufgenommen worden. Zwei Tage später habe sich die bittere Vermutung bestätigt.

Dank rascher Behandlung sei ihm vom MS-Schub nur eine leichte Einschränkung an der Sohle geblieben, erzählt S. heute, ein Dreivierteljahr danach: "Aber ich möchte nicht wissen, wie die Sache ausgegangen wäre, hätte ich vier Wochen auf einen Kassenarzttermin gewartet."

Es sind Geschichten wie diese, denen die SPÖ im Wahlkampf eine Bühne geben will. Parteichef Andreas Babler tat dies etwa in seiner Rede auf dem roten Parteirat in Wieselburg. Wer krank sei, müsse ein Recht auf einen prompten Arztbesuch haben, "und nicht nur, wenn die Kreditkarte gut gedeckt ist", proklamierte der Oppositionsführer: "Denn wir haben jetzt Schmerzen, wir brauchen jetzt einen OP-Termin – und nicht irgendwann."

Spät oder gar nicht

Das Heilmittel seiner Wahl preist Babler im sogenannten "Herz und Hirn"-Programm an. Eine Garantie, dass niemand länger als 14 Tage auf einen Facharzttermin warten müsse, verspricht er für den Fall der eigenen Kanzlerschaft. Es sei untragbar, dass Menschen mit Beschwerden heutzutage vor der Situation stünden, "viel zu spät oder gar nicht behandelt zu werden". Spricht Babler damit harte Tatsachen an? Oder bauschen die Sozialdemokraten Einzelfälle auf, um sich zu Rettern vor der sozialen "Abrissbirne" stilisieren zu können?

Die anekdotische Evidenz scheint den Kritikern recht zu geben. Weit verbreitet sind Klagen, wonach Patienten in teure Wahlarztpraxen gedrängt würden, weil sie kein Kassenangebot fänden. Und so stieß auch ein vom STANDARD via soziale Medien platzierter Aufruf auf große Resonanz: Leserinnen und Leser erzählten über ihre Erfahrungen auf der Suche nach dem passenden Arzt oder der passenden Ärztin.

Das Spektrum der Berichte ist breit, es reicht von ausgefallenen Leiden bis zu Allerweltsfällen. Manche dieser Geschichten drehen sich um Routineuntersuchungen, auf die zum Teil monatelang zu warten sei. In anderen, wie eben jener des an MS erkrankten Vorarlbergers S., sind sehr wohl besorgniserregende Beschwerden der Ausgangspunkt.

Wochenlang Schmerzen

Letzteres gilt ebenso für Herrn P. aus Graz. Anfang April habe ihr Mann starke Schmerzen in der rechten Schulter bekommen, schreibt seine Frau. Die Hausärztin habe auf Sehnenentzündung oder Kalkschulter getippt und zu einem Orthopäden weiterverwiesen. Doch in keiner der kontaktierten Ordinationen sei ein Termin unter einem Monat Wartezeit verfügbar gewesen, in der Grazer Ambulanz der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) wäre überhaupt bis Juli zu warten gewesen. Auch das Landeskrankenhaus habe abgewinkt. Ohne fachärztliche Zuweisung, sei mitgeteilt worden, würden auf der dortigen Ambulanz keine Patienten genommen, mit Ausnahme von Notfällen.

Ihr Gatte habe sich mit Schmerzmitteln "einigermaßen betäubt", weil er sich als Angestellter keine vier Wochen Krankenstand im Job leisten wollte, erzählt Frau P. Zum Duschen und für andere Alltagsverrichtungen habe er Hilfe gebraucht. Desillusioniertes Fazit: Wer kein akuter Notfall sei – und als solcher gilt ein Schmerzpatient nicht automatisch –, habe offenbar keine Chance auf zeitnahe Behandlung auf Krankenkassenkosten.

Auch Kinderimpfungen sind nicht ad hoc verfügbar: "Es erzeugt Frust, wenn man einen Folgetermin braucht, am Schalter aber niemand weiß, wie man den fristgerecht vergeben soll", sagt eine Ärztin.
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Volkswirtschaftliche Folgen

Mit der persönlichen Leidensgeschichte sind die Folgen derartiger Fälle nicht erschöpft. Auch volkswirtschaftlich fallen Kosten an. Herr P. konnte den Computer gerade noch nur unter erschwerten Bedingungen bedienen; in einem körperlich fordernden Job wäre er wohl ganz ausgefallen. Lange Wartezeiten auf eine Diagnose können die Dauer der benötigten Therapie verlängern, wozu dann möglicherweise weitere Ärztinnen und Ärzte gebraucht werden. Das Resultat sind unnötige Mehrausgaben des Staates für das Gesundheitssystem.

Doch sprechen wir da noch von der Ausnahme oder bereits von der Regel? Wie so oft im Gesundheitssystem macht das Datenmuffelland Österreich die Antwort schwer. Eine regelmäßige Erhebung, in welchem Fachbereich auf welche Art von Termin wie lange zu warten ist, existiert nicht. Hinweise lassen sich nur aus gelegentlichen Befragungen und punktuellen Statistiken schöpfen.

2,1 Prozent der Praxen unbesetzt

Eine davon liest sich entspannter, als es regelmäßige Schlagzeilen über "Ärztemangel" vermuten lassen. So mühsam es auch sein kann, in einer Gegend zu leben, in der eine Ordination leer steht: Ein Massenphänomen ist die unbesetzte Kassenpraxis, weil keine Ärztin oder kein Arzt dafür zu finden ist, nicht.

Laut ÖGK, die mit den eingehobenen Sozialversicherungsbeiträgen die "niedergelassene" Versorgung außerhalb der Spitäler finanziert, sind derzeit 154 von 7348,5 Planstellen unbesetzt (ohne Zahnärzte) – macht 2,1 Prozent. Die größten Lücken gibt es beim Fach Haut- und Geschlechtskrankheiten mit 5,9 Prozent, bei Frauenheilkunde mit fünf Prozent und bei den Kinderärzten mit 4,8 Prozent.

Doch ein weitgehend erfüllter Personalplan bedeutet noch nicht, dass der Bedarf wirklich befriedigt wird. Schließlich könnte ja die Nachfrage zugenommen haben – und genau das ist in der jüngeren Vergangenheit passiert. Laut Rechnungshof ist die Zahl der Patientinnen und Patienten pro besetzter Hausarztplanstelle in den zehn Jahren von 2009 bis 2019 um elf Prozent gestiegen, bei den allgemeinen Fachärzten beträgt das Plus gar 21 Prozent. Wie ÖGK-Daten zeigen, hat sich der Aufwärtstrend seither fortgesetzt.

44 Tage muss man sich laut einer von der Ärztekammer beauftragten Befragung auf einen Routinetermin beim Augenarzt mit Kassenvertrag in Wien gedulden. Doch Wartezeiten bei planbaren Untersuchungen seien nötig, sagt IHS-Forscher Thomas Czypionka.
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Alterung verstärkt Bedarf

Treibender Faktor sei die Demografie, sagt Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS): Österreich beherberge nicht nur immer mehr, sondern auch immer ältere Menschen, die naturgemäß großen Bedarf an Gesundheitsleistungen haben. Dass die Zahl der Kassenstellen damit nicht Schritt gehalten hat, liege an einem lange währenden, stillen Konsens der Vertragspartner im Gesundheitswesen.

Indem auf einen niedergelassenen Arzt immer mehr Patienten kamen, habe die Ärztekammer ihrer Klientel wachsende Einkommen garantieren können, sagt Czypionka. Im Gegenzug hätten sich die Krankenkassen allzu üppige Erhöhungen der an die Mediziner bezahlten Leistungstarife erspart und verhindert, dass mehr Angebot auch mehr Nachfrage schafft. Ergo sei die Zeit für die einzelne Behandlung kürzer geworden – und die Wartedauer, um an Termine zu kommen, länger.

Aktuell schlägt die Standesvertretung allerdings selbst Alarm, weil die Kassenversorgung massiv vernachlässigt worden sei. Als Nachweis dient eine neue Studie. Auf Geheiß der Wiener Kammer ließ der Meinungsforscher Peter Hajek "Mystery-Calls", also fingierte Anfragen, bei 850 Kassenärztinnen und -ärzten durchführen. Das Ergebnis ist, zumindest in den Augen der Auftraggeber, "erschreckend".

Zunehmende Mangelwirtschaft

Mit Abstand am längsten sind die Wartezeiten in Wien demnach bei Kinder- und Jugendpsychiatern: 90 Tage müssen sich Patientinnen und Patienten im Durchschnitt für einen Termin gedulden. Dass es zu wenige Kinder- und Jugendpsychiater gibt, ist bekannt. Seit der Pandemie ist die Nachfrage noch größer. Angesichts des Andrangs könne man in einer Kassenordination "nicht in der nötigen Frequenz behandeln", warnt Helmut Krönke, Fachgruppenobmann in der Ärztekammer und selbst Wahl-Kinderpsychiater. Da bestehe die Gefahr, dass sich Leiden chronifizieren. Außerdem sei es vielen Erkrankten oft über lange Zeit nicht möglich, zur Schule zu gehen oder ihre Ausbildung weiterzumachen – auch das sei ein volkswirtschaftliches Problem, sagt Krönke.

Eine identisch aufgezogene Studie aus dem Jahr 2012 macht einen Vergleich möglich. Besonders stark gestiegen ist die Wartedauer demnach in der Augenheilkunde, und zwar von neun auf 44 Tage. Auch beim Lungenfacharzt wartet man um ein Vielfaches länger als vor zwölf Jahren: Damals waren es fünf Tage, heute sind es 36 Tage. Vervierfacht hat sich die Wartezeit auf einen Kassentermin beim Frauenarzt (auf 32 Tage) und bei der Hautärztin (auf 28 Tage). Wer etwas vom Internisten braucht, muss 33 Tage Wartezeit einrechnen (2012: zwölf).

Leiden ist nicht gleich Leiden

Allerdings bedarf die Erhebung eines Beipacktextes. Denn die beauftragten Anrufer ließen nicht nach Terminen wegen dringlicher Symptome wie Schmerzen oder gar Notfällen fragen, sondern gaben "softe" Leiden an, wie etwa Sehschwäche im Fall der Augenärzte.

Für die Bewertung, wie viel Warterei noch akzeptabel sei, mache das aber einen großen Unterschied, sagt der Experte Czypionka. Niemand warte gerne; doch um die begrenzten Ressourcen effizient zu nützen, seien Wartezeiten sogar nötig: "Sonst würden Ärzte viel Zeit untätig versitzen, bis jemand vorbeikommt." Im Fall einer Routineuntersuchung könnten sich Menschen durchaus zwei, drei Monate gedulden – bei akuten Beschwerden hingegen natürlich nicht.

Schmerzen gelten nicht per se als Notfall. Bis zur Diagnose und Behandlung können Wochen verstreichen.
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Rote Augen haben Vorrang

Diese Differenzierung habe ihr vergangene Woche in der Berichterstattung über die Ärztekammer-Studie gefehlt, sagt Gabriela Seher, Augenärztin auf Kasse in Wien-Margareten sowie selbst Fachgruppenobfrau in der Standesvertretung. Wer unter einem roten Auge, Kopfschmerzen oder einer plötzlichen Sehverschlechterung leide, werde in der Augenheilkunde immer eingeschoben. Das sei von Wien bis Bregenz so, betont Seher, die auch der Österreichischen Ophthalmologischen Gesellschaft (ÖOG) vorsteht.

Wenn man verbreite, dass man beim Kassenarzt nicht mehr drankomme, "dann gehen die Leute gleich gar nicht mehr hin", kritisiert sie. Sie empfehle Augenkontrolltermine einmal im Jahr, für diese bestehe eben eine Wartezeit. Allerdings kämen viele Menschen nicht zum vereinbarten Termin, fügt Seher an. Und manchmal sagten Anrufende vorab nicht dazu, dass sie Beschwerden haben, die einer raschen Abklärung bedürften.

Unterschied, ob akut oder nicht

Auch die Vertreter der Sozialversicherung pochen auf die Unterscheidung zwischen Akutbehandlung und Routine – und dem werde im System Rechnung getragen. Die ÖGK beruft sich dabei auf eine im Vorjahr durchgeführte Befragung von 653 Personen, die sich in den vergangenen Monaten bei Ärzten angemeldet hatten. Demnach hätten in akuten Fällen 61 Prozent der Patientinnen und Patienten einen Termin bis zum nächsten Tag oder sogar am selben Tag erhalten, weitere 20 Prozent hätten zwei bis drei Tage warten müssen. Länger ausharren musste demnach ein knappes Fünftel der Betroffenen.

Bei Routineuntersuchungen sei knapp die Hälfte der Patientinnen innerhalb von zwei bis drei Tagen zum Zug gekommen. Bei der Verschreibung von Medikamenten und Heilbehelfen sind es 72 Prozent.

Doch auch diese Aufstellung hat ihren blinden Fleck: Sie bezieht sich nur auf Allgemeinmediziner, nicht auf Fachärzte.

ÖGK verweist auf Zufriedenheit

Breiten Unmut registriert die ÖGK nicht – im Gegenteil: 57 Prozent der Patientinnen und Patienten praktischer Ärzte seien sehr zufrieden mit der Wartezeit, weitere 25 Prozent zufrieden und nur zwei Prozent überhaupt nicht zufrieden. Bei den Fachärzten betragen die Quoten der sehr und moderat Zufriedenen 44 und 26 Prozent, bei sieben Prozent Unzufriedenen. Ohnehin hänge viel auch von der Organisation in den Praxen ab, so der Hinweis: Es gebe stark ausgelastete Ordinationen, die trotzdem rasch Termine vergäben – und umgekehrt.

Wie in dieses Bild jene Beispiele passen, wo unter Beschwerden leidende Menschen nach Eigenaussage reihenweise vertröstet werden? Beim eingangs geschilderten Fall des an MS erkrankten Paul S. vermutet die ÖGK den Fehler an anderer Stelle als in mangelndem Angebot. In Vorarlberg seien alle Planposten für Neurologie besetzt, Probleme in Bezug auf Engpässe würden nicht gemeldet. Das Land biete ein eigenes Terminsystem für dringliche Fälle: "Es scheint, als ob die behandelnde Hausärztin diese Dringlichkeit nicht festgestellt hat."

Auch in Graz, wo sich Herr P. mit seiner schmerzenden Schulter im Kreis geschickt fühlte, würden keine Beschwerden über Wartezeiten laut. So wie in ganz Österreich seien alle Kassenstellen für Orthopädie besetzt. Im bundesweiten Schnitt müssten sich Patienten für einen Termin bei einem derartigen Facharzt sieben Tage gedulden. Nur in elf Prozent der Fälle sei die Wartezeit bei einem Monat plus gelegen, wobei Überweisungen vom Hausarzt zu einer Verkürzung führten.

Schleppender Ausbau 

In manchen Regionen gebe es in bestimmten Disziplinen durchaus längere Wartezeiten, räumt die ÖGK ein, das gelte etwa für die Augenheilkunde und die Dermatologie. Doch da greife die von der Regierung geförderte "Initiative +100" zum Ausbau der Kassenstellen.

Allerdings läuft das Vorhaben schleppender als politisch geplant. Bereits bis Ende 2023 wollten ÖVP und Grüne die 100 neuen Stellen geschaffen haben. Bisher wurden aber erst 67 überhaupt ausgeschrieben, für 60 gab es Stand Mitte Mai Bewerbungen. Für 24 ist die Besetzung beschlossen, für 20 weitere könnte es bis Anfang Juni so weit sein. Den vollen Betrieb aufgenommen haben bisher erst drei neue Ordinationen: eine für Dermatologie in Bludenz (Vorarlberg), eine für Allgemeinmedizin in Eugendorf (Salzburg), eine für Augenheilkunde in Gänserndorf (Niederösterreich).

Der Arzt kommt per Video

Überdies helfen soll der Ausbau digitaler Angebote, damit Patienten Beschwerden abklären können, ehe sie womöglich unnötigerweise Wartelisten verstopfen. So soll via Gesundheitsnummer 1450 künftig auch ein Videocall mit einer Ärztin oder einem Arzt möglich sein.

In den SPÖ-Plänen spielt 1450 ebenfalls eine tragende Rolle. Wer Beschwerden habe, auf eigene Faust aber bei der Facharztsuche scheitere, solle sich an die Hotline wenden. Deren Mitarbeiter hätten dann einen Termin innerhalb von 14 Tagen in der jeweiligen Gegend zu organisieren. Als Bedingung ist eine Überweisung vom eigenen Hausarzt vorgesehen – ein eher grober Filter. Das impliziert, dass sich Bablers "Garantie" keineswegs nur auf Schmerzpatienten und ähnliche Akutfälle erstrecken würde.

Doch wer soll die dafür nötigen zusätzlichen Behandlungsstunden leisten? Abgesehen von der Besetzung vakanter Stellen und dem angebahnten Ausbauplan glaubt die SPÖ, erst einmal ohne weitere Aufstockung auskommen zu können. Denn Ärztinnen und Ärzte gebe es ja – nur stünden diese allzu oft nicht im Dienste der Allgemeinheit.

Fast ein Drittel der Hausärztinnen und Hausärzte in Wien nimmt laut Befragung keine neuen Patientinnen und Patienten mehr auf.
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Wahlärzte verpflichten?

Angesprochen fühlen dürfen sich die Wahlärzte, eine österreichische Besonderheit. Diese Spezies hat keinen Kassenvertrag, Patienten bezahlen die frei festgelegten Behandlungshonorare erst einmal aus eigener Tasche. Anders als bei Privatärzten gibt es aber das Recht auf Rückerstattung. Auf Antrag refundiert die Kasse 80 Prozent jenes Betrags, den ein Kassenarzt für die gleiche Leistung erhält – nicht des mitunter deutlich höheren Honorars.

Das Modell, das im Gegensatz zum Kassenvertrag kein Mindestmaß an Öffnungszeiten vorschreibt und somit eine flexiblere Freizeitgestaltung erlaubt, erfreut sich wachsender Popularität: Die Zahl der Wahlärzte stieg in den vergangenen Jahren markant an. Die SPÖ will nun einen Teil zurück in den Dienst für die Allgemeinheit holen. Erst sollen die Mediziner eingeladen werden, bis zu zehn Prozent ihrer Kapazität zum Kassentarif zur Verfügung zu stellen. Reicht das nicht, um Versorgungsengpässe zu beseitigen, ist als Ultima Ratio eine gesetzliche Verpflichtung vorgesehen.

Eng getaktet und unter Stress

Auch Jasmin Voitl findet, "dass etwas passieren muss". Es sei schwierig, noch Kolleginnen und Kollegen zu finden, die zu den Kassenbedingungen arbeiten wollen, erzählt die Ärztin aus dem Kinder-Primärversorgungszentrum (PVE) in Wien-Donaustadt, das ihr Vater Peter Voitl gegründet hat. Sie könne das ja auch verstehen, es werde relativ eng getaktet unter Stress gearbeitet. Doch wenn der Run ins Wahlarztsystem weitergehe, werde die Situation für die verbliebenen Kassenärztinnen wie auch deren Patienten immer aufreibender.

Das unterbesetzte Ärzteteam im PVE arbeite derzeit so viel wie möglich, die täglich eingeplanten Akuttermine seien trotzdem oft bereits kurz nach neun Uhr in der Früh vergeben, berichtet Voitl: "Und es erzeugt Frust, wenn man fürs Zeckenimpfen einen Folgetermin braucht, am Schalter aber niemand weiß, wie man den fristgerecht vergeben soll."

Wie eine Kehrtwende geschafft werden könnte? An besserer Honorierung der Kassenmediziner führe kein Weg vorbei, sagt Voitl.

IHS-Forscher Thomas Czypionka hat da Zweifel – schließlich zeigt eine Studie seines Instituts, dass Ärzte mit Kassenvertrag im Schnitt mehr verdienen als Wahlärzte. Der Experte sieht den Schlüssel vielmehr in den Arbeitsbedingungen, die stärker den Bedürfnissen der jungen Medizinergeneration entgegenkommen müssten.

Terminsuche ginge besser

An vielen Stellen ließe sich ansetzen, um Wartezeiten zu verkürzen, sagt Czypionka. So könnte eine zentrale Meldeplattform die Terminsuche für jedermann massiv erleichtern. Das SPÖ-Ziel der 14 Tage für alle Patienten mit Überweisung vom Hausarzt sei jedoch ziemlich kurz bemessen. Sinnvoll und wohl realistischer wäre, stärker nach Dringlichkeit zu differenzieren.

Für eine Themenverfehlung hält der Experte hingegen das Vorhaben, die Zahl der Medizinstudienplätze mit Blick auf die Zukunft zu verdoppeln. Beinahe ein Drittel der Studienabsolventen landeten nie in den heimischen Institutionen, sondern etwa in Deutschland, das chronisch zu wenige künftige Ärzte ausbilde: Es gelte, diese Abgangsquote zu reduzieren, statt die Zahl der Studierenden zu erhöhen.

Die SPÖ will dem Problem allerdings mit diversen Anreizen vorbeugen. So sollen alle jene einen erleichterten Zugang zum Studium haben, die sich zu einem späteren Dienst im heimischen öffentlichen System verpflichten. Eines ist hinter vorgehaltener Hand in der Partei aber zu vernehmen: Die Verdoppelung der Studienplätze sei in Wahrheit unrealistisch, weil zu hoch gegriffen. Aber für ein wahlkampftaugliches Ideenpapier brauche man eben plakative Forderungen.

Weiteres Warten auf Bilder und Therapie

Die Problematik hat noch viele Facetten mehr. So ist die Suche nach dem rasch verfügbaren Facharzt im Krankheitsfall nur eine der Sorgen, die Betroffene plagen können. Wie DER STANDARD berichtete, kann es etwa Monate dauern, bis man eine Magnetresonanztomografie (MRT) absolvieren kann. Auch vor einer etwaigen Therapie in der Folge ist mitunter Geduld gefragt. Auf eine von der Kasse bezahlte Physiotherapie ist laut Berufsverband bis zu sechs Wochen zu warten.

Und dann gibt es noch Fälle, wo es nicht bloß um die Wartezeit geht, sondern um die prinzipielle Verfügbarkeit einer Behandlung. So meldeten sich beim STANDARD auch Menschen, die sich als Leidtragende des chronischen Fatigue-Syndroms – kurz ME/CFS – im Regen stehen gelassen fühlen. In der Versorgung klaffen nach wie vor riesige Lücken.

Ärzte mit Aufnahmestopps

Ein anderes Phänomen betrifft die breite Masse. Klagen von Versicherten, dass viele Kassenärztinnen und -ärzte prinzipiell gar niemanden mehr auf Dauer aufnehmen würden, decken sich mit den Ergebnissen der Ärztekammerstudie. Demnach hat beinahe ein Drittel der Gynäkologen und Hausärzte in Wien einen Aufnahmestopp verhängt, in der Kinderheilkunde sind es 54 Prozent. Bei ihr im Kinder-PVE seien schon Familien gelandet, die zwei Jahre vergeblich gesucht hätten, erzählt die Ärztin Voitl.

Auch Hausbesuche würden wegen des knappen Zeitbudgets immer seltener angeboten werden, sagt Michaela Wlattnig, Sprecherin der Patientenanwaltschaften aller Bundesländer. Nicht nur das treffe vor allem Ältere, chronisch Kranke und andere vulnerable Gruppen. Sozial benachteiligte Menschen nähmen ohnehin schon weniger an Vorsorgeprogrammen teil. Wenn ihr dann gemeldet werde, dass in manchen Bundesländern auf eine Darmspiegelung oder eine Muttermalkontrolle ein Jahr zu warten sei, werde sich die Situation weiter verschärfen.

"Das solidarische Gesundheitssystem ist in einer Schieflage", bilanziert Wlattnig. Glaubt man einer Umfrage des Demox-Instituts im Auftrag des Austrian Health Forum (AHF), dann teilt diesen Befund eine wachsende Zahl der Österreicher: Vor vier Jahren zeigten sich noch 37 Prozent von 1000 Befragten "sehr zufrieden" mit der Gesundheitsversorgung. Heute ist es nicht einmal mehr ein Zehntel. (Gerald John, Gudrun Springer, 25.5.2024)