Obwohl die Geheimdienste in den vergangenen Jahren davon ausgingen, dass Osama Bin Laden nicht nur den Afghanistan-Krieg, sondern auch die Zeit danach überlebt hat, blieb seine Existenz nach 2001 doch völlig im Dunkeln. Zumindest für seine Gegner, denn über welche Kommunikationskanäle seine Anhänger, also jene Individuen und Gruppen, die sich Al-Kaida zurechnen, verfügen, und welche Informationen über diese Kanäle laufen, weiß man nicht einmal annähernd.

Jedenfalls wird Al-Kaida in ihrer Gesamtheit von den Fachleuten nicht als vertikal durchorganisiertes, sondern lose verbundenes, horizontales Gebilde verstanden. Ob Osama Bin Laden nun lebt, gar selbst Entscheidungen über einzelne Terroraktionen trifft, oder ob er tot ist und trotzdem als mächtiger Spiritus rector weiter funktioniert, schien nicht einmal von so entscheidender Bedeutung.

Und dann meldet sich, kurz vor dem sechsten Jahrestag des 11. September, der "Terrorpate", wie die Medien das Unbeschreibbare beschreiben, plötzlich sichtbar und hörbar zu Wort. Erste Analysen ergeben, dass das Video mit großer Wahrscheinlichkeit echt ist. Und die Experteneinschätzungen gehen in die Richtung, dass der unvermutete Auftritt einen ganz bestimmten Sinn haben muss: dass da eine Botschaft versandt wird.

Dass eine schwächelnde Al-Kaida Bin Ladens direkten Input braucht, um sich neu zu beleben, ist leider die am wenigsten wahrscheinliche Interpretation. Das Mobilisierungspotenzial des Phänomens Al-Kaida scheint noch zu wachsen, wie man an der Infizierung einer Gruppe von deutschen Islam-Konvertiten ablesen kann. Und auch die nordafrikanische Kaida braucht die neue "Inspiration" nicht wirklich, um zu morden. Dass Osama Bin Laden auf dem Band nicht direkt zu Anschlägen aufruft, beruhigt niemanden. Seine Rückkehr lässt Schlimmes befürchten. (Gudrun Harrer/DER STANDARD, Printausgabe, 10.9.2007)