Eine Art Welttheater, Versuch einer großen künstlerischen Synthese der Erfahrung brasilianischer (und afrikanischer) Existenz: Glauber Rochas "A Idade da Terra / Das Alter der Erde".

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Poco und Cabengo, Zwillinge, Sprachrätsel, Titelfiguren von Gorin - und Plakatmotiv

Foto: Filmmuseum

Gemeint sind damit Arbeiten, die einer Suchbewegung folgen, allem Vorgeformten misstrauen und auf diese Weise Neues erschließen.

Mit leeren Händen steht der Bauer vor seiner Frau und der Tochter. Was er gesät und geerntet hat, wurde verkauft und geliefert, aber vom Geldwert des Weizens kommt kaum etwas zu den Herstellern zurück. Dieses symbolkräftige Bild bleibt in Erinnerung aus A Corner in Wheat, einem viertelstündigen Film von D. W. Griffith aus einer Ära des Kinos, als die Formen noch nicht endgültig ausgebildet waren.

Drei Ebenen werden hier miteinander vermittelt: die städtische Gesellschaft des Weizenbarons, der die Profite aus dem (weltweit monopolisierten) Handel einstreift; die Menschen, die in der Stadt um Brot anstehen, ein Grundnahrungsmittel, das aufgrund der Weizenspekulation täglich teurer wird; und die Bauern, die mühsam ihr Auskommen suchen. Die drei Bereiche werden bei Griffith nur durch die Montage in Beziehung gesetzt. A Corner in Wheat ist eine auf das Grundgerüst reduzierte melodramatische Geschichte, darüber hinaus aber eben auch mehr: Eine Gesellschaftsanalyse en miniature, ein Versuch, der Komplexität der Zusammenhänge mit einfachen Bildern zu entsprechen.

Aus dieser zweifachen Charakteristik erschließt sich das Motiv, mit A Corner in Wheat die diesjährige Viennale-Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum zu eröffnen: Der Weg der Termiten. Beispiele eines essayistischen Kinos 1909-2004 versammelt Filme, die etwas probieren. Als literarische Form steht der Essay auf der Seite des Nichtfiktionalen. Die Suche, um die es dabei geht, zielt nicht so sehr auf objektive oder verifizierbare Wahrheiten, sondern um das, was beim Suchen entsteht.

Im Kino hat man relativ spät begonnen, von essayistischen Formen zu sprechen. Das Verdienst der Retrospektive ist nun, dass Jean-Pierre Gorin – den die Viennale mit guten Gründen zu einem Bündnispartner gemacht hat, seit er 2004 mit eigenen Filmen und Lectures zu Gast war – das essayistische Kino nicht als Randform versteht, sondern als zentrales Moment der Filmgeschichte. Deswegen der Auftakt mit A Corner in Wheat, von dem ja auch der geläufige Spielfilm abstammt.

Was das Programm danach im Detail enthält, ist an Reichtum tatsächlich kaum zu überbieten. Nur ein Beispiel: Der parfümierte Alptraum von Kidlat Tahimik (Philippinen 1977) und Appunti per un' Orestiade africana von Pier Paolo Pasolini (Italien 1970).

Pasolini ging es eigentlich um einen Spielfilm. Für eine Version der Orestie, der griechischen Tragödientrilogie, die zugleich ein Gründungsmythos der Demokratie ist, sucht er in Afrika nach Schauplätzen und Schauspielern. Die Recherche wird zu einem Versuch über die Entkolonialisierung, mit Studenten, die aus Rom nach Tansania heimkehren und dort die neuen Eliten bilden, mit Bäumen in der Rolle von Rachegöttinnen, und einem europäischen Intellektuellen, der sich von der Euphorie seiner Beobachtungen mitreißen lässt.

Bildungsreisen

Umgekehrt die Bewegung in Der parfümierte Alptraum, einem Film, der in Fredric Jamesons Buch The Geopolitical Aesthetic eine zentrale Rolle spielt, dabei aber kaum einmal irgendwo zu sehen ist. Hier fährt der Filmschaffende von den Philippinen nach Westen, er sieht, wie in Paris das Centre Georges Pompidou entsteht und rätselt über die Bedeutung der bayerischen Zwiebeltürme. Kidlat Tahimik unternimmt spielerisch eine Bildungsreise, die ihn zu seinen lokalen Wurzeln zurückführt. Wurzeln, die Pasolini für sich selbst in der ganzen Welt sucht.

Was man heute Globalisierung nennt, spielt in der Geschichte des essayistischen Kinos eine große Rolle. Viele der vertretenen Filmemacher sind Reisende, wie Chris Marker oder Raymond Depardon (von dem die Selbsterforschung Les années déclic zu sehen ist), oder wie Johan van der Keuken, von dem der Film stammt, der zusammen mit A Corner in Wheat programmiert wurde: Het witte kasteel (Das weiße Schloss) ist eine Geschichte der Arbeit in weltweiten Zusammenhängen, und nebenbei auch ein Beispiel für arbeitsteiliges Kino, für Filmen im Kollektiv.

Die Metaphorik von den Termiten, bei der Gorin auf eine berühmten Text des Kritikers Manny Farber zurückgreift, enthält dabei eine markante Betonung: essayistische Formen eignen sich nicht für Ameisenstaaten, sie dienen nicht dem Aufbau grandioser Systeme (wenngleich Dziga Vertov in seinen Drei Liedern über Lenin noch große Hoffnungen auf den sowjetischen Sozialismus setzt), sondern suchen nach untergründigen Spuren.

Der Landschaftsentzifferer Patrick Keiller (mit seinem grandiosen Film über das neoliberale England, Robinson in Space) ist nur einer, der die Form des Palimpsests, der Ein- und Überschreibung, gewählt hat – er gibt sich eine fiktive Existenz und bereist das von Margret Thatcher "privatisierte" Land als Phantom einer Öffentlichkeit, die von Corporate Design zugestellt wird.

In ähnlicher Weise erforscht Robert Kramer die USA entlang der Route One, oder durchquert Jean-Luc Godard die Filmgeschichte so, als wäre sie seine eigene Biografie und die der Welt zugleich. An vielen Stellen kann das Filmmuseum an seine Arbeit der letzten Jahre anschließen (Nagisa Oshimas Geheime Geschichten aus der Zeit nach dem Tokyo-Krieg, an anderen Stellen tauchen Regisseure wie Peter Nestler auf, denen die Viennale in den letzten Jahren schon Tributes gewidmet hat).

Weltbürger

Ein Film, der die essayistische Form zugleich perfekt veranschaulicht und radikal überbietet, könnte die Grenze dieser Retro markieren (auf die vielleicht eines Tages eine Schau über den "Hang zum Gesamtkunstwerk" folgen könnte): A Idade da Terra (Das Alter der Erde) von Glauber Rocha ist eine Art Welttheater, in der alles, was die Erfahrung brasilianischer (und afrikanischer) Existenz ausmacht, nach einer großen künstlerischen Synthese drängt.

Rocha versucht, mit den Mitteln der ästhetischen Moderne an die Wurzeln der Volksmacht zu gelangen – er ist, wenn man so will, gleichzeitig Pasolini und Kidlat Tahimik, ein eingeborener Weltbürger, der mit vollen Händen aus der Schatzkammer der Zeichen zurückkehrt. (Bert Rebhandl / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5.10.2007)